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„Der Weltraum, unendliche Weiten.“ So begannen damals die Episoden der  Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“. Dort oben im Weltraum genießt nicht nur die Besatzung des Raumschiffes die „unendlichen Weiten“. Seit jeher sind wir  Menschen von der schier unvorstellbaren Größe des Universums fasziniert.

Der alte Seemann, der sein Leben lang schon die Ozeane bereist, die etwa 80%   unseres Planeten bedecken, ist noch immer begeistert von der Weite der blauen  Wassermassen, auf denen man tagelang unterwegs sein kann, ohne Festland zu  entdecken.

Der Anführer einer Wüstenkarawane, der sich jeden Tag in der größten Sandwüste  der Welt, der Rub al-Chali, befindet, empfindet sie noch immer als Wunder der   Natur. Die trockene Weite der wandernden Sanddünen findet er beinahe  berauschend.

Die amerikanische Prärie, Lebensraum der indigenen Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents und zahlreicher Tiere kann man stundenlang mit dem Auto durchqueren, ohne auch nur Anzeichen von Zivilisation vorzufinden. Wie  schön finden wir Menschen diese kilometerlangen, kerzengeraden Highways durch  die Weiten der Steppen der Prärie.

Die Serengeti, man nennt sie die „Endless Plain“ ist jedes Jahr Schauspiel der  „großen Migration“, bei der riesige Herden von wildlebenden Huftieren wie Zebras  und Gnus auf der Suche nach Nahrung hunderte Kilometer zurücklegen. Der Traum  eines jeden Safaritouristen, für den die Reise nicht nur wegen der Tiere, sondern vor allem auch wegen der Weite des Landes ein unvergessliches Abenteuer bleibt.

Die Tundra in Nordeuropa, ewige geradezu kälteanziehende Flächen, die jeden schwärmen lässt, der schon einmal dort war, denn alle finden die Weite dieses  kalten Landes fast schon meditativ.

Ungefähr hundert Meter über der Erde schwebt ein Heißluftballonfahrer in seinem Ballon dahin. Er will da oben die Weite genießen und aus seinem normalen Leben fliehen, das sich unten auf der Erde jeden Tag wiederholt.

Der Südpol, der jeden mutigen Abenteurer dazu einlädt, ihn zu bezwingen. Und sie alle wollten genau an diesen einen Ort, um Weite zu erleben.

Ein Bauer, der gerade sein eigenes Feld umpflügt, ertappt sich schon mal bei dem Gedanken über die schöne Weite dieser hügeligen Landschaft, der er seinen Lebensunterhalt verdankt.

Weite: etwas, was uns träumen lässt, Wünsche wahr  werden lässt und uns von tiefstem Herzen erfüllt. Die Weite ist nicht nur ein
Wort, es ist ein Gefühl. Etwas, das uns in unserem Alltag durch
den einfachen Gedanken daran vorantreiben kann, uns Lust darauf
macht, Neues zu entdecken. Wir sehnen uns danach.

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Doch ist Weite tatsächlich dieser romantische Traum der
Freiheit, Unbekümmertheit, Unbeschwertheit? Ist Weite nur gut?

Die Besatzung des Raumschiff Enterprise hat jahrelang ihre Familie nicht mehr  gesehen und am Schluss geht es ihnen doch nur darum, wieder nach Hause zurückzukehren.

Dem alten Seemann geht es ähnlich: auch er hat seine Geliebten jahrelang nicht mehr gesehen und vermisst sie sehr.

Der Anführer der Wüstenkaravane sehnt sich nach Gesellschaft. Es macht ihn  vielleicht traurig, denn viele schöne Gespräche entgehen ihm.

In der Prärie wurde durch Highways und Ansiedlungen viel von Menschenhand zerstört, und damit ist nicht nur Lebensraum für Tiere verloren gegangen, sondern auch der ursprüngliche Lebensraum der indigenen Bevölkerung. Heute leben sie nämlich oft in abgetrennten Resorts. Wie empfinden sie wohl die Weite um sich? Ist  Weite nicht auch Abgrenzung?

Auch der Safaritourist ist am Ende seiner Reise froh, wieder nach Hause zu kommen, denn er vermisst seine Wohnung (und hier insbesondere die warme Dusche J), aber vor allem seine Familie und Freunde.

In der Tundra mag es zwar viel Weite geben, doch für die Insassen der dort erbauten Arbeitslager ist das wohl ein schwacher Trost. Die oft politischen Gefangenen werden auf diese Weise von der Öffentlichkeit abgeschirmt, um sie  mundtot zu machen. Dabei hilft die Weite der Tundra.

Der Heißluftballonfahrer ist froh, wenn er heil wieder auf die Erde kommt. In seinem Haus erwartet seine Familie ihn nämlich schon sehnsüchtig und als der Ballonfahrer am nächsten Tag ins Büro geht, genießt er die Nähe zu seinen Arbeitskollegen, denen er von seinem luftigen Abenteuer erzählen kann.

Am Südpol ist die Bevölkerungszahl gleich null. Und das hat auch einen Grund:  menschenfeindliche Lebensbedingungen. Wer würde dort ewig verweilen wollen?

Nach einem Tag Traktordröhnen auf dem weiten Feld kann der Bauer wohl das Gekicher seiner Kinder gar nicht mehr erwarten. Den Duft eines schönen Abendbrots und die Zuwendung seiner Frau. Nach so viel Weite und Einsamkeit ist es nämlich für ihn immer schön, wieder Nähe zu verspüren.

All diese Personen haben eine Sache gemeinsam:

Sie sind gerne allein.
Die Weite gibt ihnen ein Gefühl der Freiheit.

Und doch:
Sie fühlen sich irgendwann einsam.
Und allein sein mag auf Dauer niemand … so schön die Weite auch sein mag.

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„WEITE IST GUT – ABER NÄHE ZU MENSCHEN UND
GESELLSCHAFT IST AM ENDE DOCH VIEL BESSER. ODER?“

Mein Herz klopfte, in meinem Kopf wuselten die Gedanken. Wer war im  Wohnzimmer? Ich zog meine Bettdecke bis zu meiner Nase hoch. Eine Weile  verging. Ich nahm all meinen Mut zusammen und schlich nach unten. Dort saß jemanden auf dem Sofa in eine Decke gewickelt. Es war meine Omi. „Was machst du hier? Kannst du auch nicht schlafen? Soll ich uns einen Tee machen?“, fragte ich meine Oma, die sich abrupt umdrehte. ,,Ach, alles gut mein Schatz, ich war nur kurz mit meinen Gedanken weg“, antwortete meine Omi. Ich fragte sie:,,Willst du es mir erzählen?“ ,,Mein Schatz ich möchte dich nicht mit unangenehmen Dingen belasten“, sagte sie mit einer traurigen Mine. So kannte ich meine Oma gar nicht. ,,Ach komm schon Omi“, bettelte ich, ,,erzähle es mir!“  Meine Omi fing an zu erzählen:

Du weißt ja, unsere Familie kommt aus Syrien. Ich wurde dort geboren. 2011 fing dort ein Bürgerkrieg an. Ich war gerade einmal drei Jahre alt und bin ab dem Zeitpunkt im Krieg aufgewachsen. Zur Schule ging ich fast nie. 2021 entschloss meine Mutter, mit mir und meinen Geschwistern zu flüchten. Sie hielt es nicht mehr aus. Im Januar hatte man meinen Vater erschossen und meine Mutter hatte Angst, dass dasselbe auch uns passieren würde. Wir lebten in Hamah. Hamah war recht nah am Meer gelegen, weshalb wir uns entschieden, übers Meer zu flüchten. Es
war gefährlich, doch noch gefährlicher war es, hier zu bleiben. Zu dem Zeitpunkt war ich dreizehn Jahre alt und ich wusste, dass sich mein Leben komplett umstellen würde. Im Mai ging unsere Reise los. Wir fuhren an mehreren Inseln vorbei. Die erste Nacht war die schlimmste meines Lebens. Ständig hatte ich Angst, vom Boot zu fallen und es musste immer jemand wach bleiben. Meine Mutter, meine drei Geschwister und ich waren noch mit zehn anderen Leuten auf dem Boot. Die
Tage vergingen. Jeden Tag sah ich die Weite des Meeres und hoffte, dass ich mal Land sehen würde. Eines Nachts, ich hatte schon lange nicht mehr gezählt, die wievielte es war, schrie jemand „Land, Land“. Ich sprang auf, was auch die anderen auf dem Boot taten. Plötzlich kam Wasser in unser Boot und immer mehr Wasser, bis wir schließlich umkippten. Das Boot kenterte. Es war kalt, dunkel und ich hatte Angst um mein Leben und um das meiner Familie. Ich hörte die Schreie meiner Mutter und die meiner kleinen Brüder Feras und Marwan. Maron, meinen großem Bruder hörte ich nicht. Ich schwamm und schwamm. Mein Mund füllte sich mit Wasser. Auf einmal packte mich etwas von der Seite. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich aufwachte, beugte sich mein großer Bruder über mich. „Hala! Du lebst!“, schrie er freudig. „Los, wir müssen Mama, Marwan und Feras suchen. Ohne sie gehe ich nicht weiter.“

Ich schluckte. Mama und meine kleinen Brüder waren nicht mit uns am Strand. Angst stieg in mir auf. Was sollten wir tun? Ich wollte sie nicht verlieren. Fünf Minuten saßen wir bestimmt noch am Strand und überlegten, was wir tun sollten. Und die anderen, die mit uns auf dem Boot waren? Was ist mit denen?, fragte ich meinen Bruder. „Ich habe fast alle schon gesehen. Sie gehen ins Flüchtlingslager nach Pisa. Das ist aber sehr weit weg. Wir brauchen bestimmt mehrere Tage, um
dorthin zu laufen.“, erzählte mir mein Bruder. Wenigstens gab es ein paar gute Nachrichten. Doch es graute mir davor, mehrere Tage zu laufen. Ich flehte meinen Bruder an, noch einen Tag zu warten, da ich noch zu erschöpft war. Ich wollte nur schlafen. Mein Bruder sah mir das anscheinend an und willigte ein, wofür ich ihm sehr dankbar war. Wir liefen am Strand entlang und fanden Koffer, die wahrscheinlich mit uns angespült worden waren. Drei Koffer davon gehörten uns. Am Strand entdeckten wir eine Strandbar, wo wir für eine Nacht übernachten konnten.Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg nach Pisa. In der Unterkunft hatten wir eine Landkarte bekommen. Dieser folgten wir und kamen an einen Fluss. Dort legten wir eine Rast ein. Die Vögel zwitscherten und es ging ein leichter Wind. Die Tage vergingen und immer sah ich die Weite der Landschaft. Unterwegs waren wir per Anhalter oder mit dem Bus. Viel vom Weg liefen wir auch
einfach. Nachts schliefen wir oft in der Natur oder bei netten Leuten, die und  aufnahmen. Ich dachte oft an meine Mutter und an meine kleinen Brüder. Ich wusste nicht, ob sie überlebt hatten. Die Tage und Wochen vergingen und ich weinte viel. Irgendwann war der Tag gekommen. Es war Abend und die Sonne ging schon unter. Da hörte ich Kinder lachen und Eltern rufen. Ich glaubte kaum, was ich
sah. Es waren große weiße Zelte. Wir hatten es geschafft. Vor einem großen Tor sah ich jemanden stehen. Diese Person war klein und erinnerte mich an meinen  Bruder. „Feras!“, schrie ich vor Glück. Mein Mund war staubtrocken und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich war erschöpft, doch ich rannte. Plötzlich kam meine Mutter mit Marwan um die Ecke. Es war der schönste Moment in meinem Leben, als ich sie endlich wieder in die Arme schließen konnte. Doch
ich wusste, es war erst der erste Teil unserer Reise geschafft. Ein halbes Jahr lebten wir gemeinsam in dem Flüchtlingslager, bevor wir weiterzogen. Noch einmal machten wir uns auf einen langen Weg. Noch einmal wusste ich nicht, was mich erwarteten würde. Doch dieses Mal waren wir als Familie wieder zusammen. Wir liefen und liefen. Irgendwann nach bestimmt einem halben oder dreiviertel Jahr, kamen wir an. Langsam sahen wir am Horizont ein leichtes Licht. Meine Mutter blieb stehen. Ich sah in ihrem staubigen Gesicht, wie erleichtert und froh sie war. Mit erschöpfter Stimme sagte sie: „Wir haben es fast geschafft!“ Mein kleiner Bruder Marwan machte kleine Luftsprünge. Feras war auf meinem Arm eingeschlafen. Er war einfach zu erschöpft gewesen. Genau wie mein großer Bruder und ich. Mama sagte zielstrebig: „Dieses kleine Stück schaffen wir noch. Auf geht’s!“ Aber dieses kleine Stück kam mir wie der weiteste Weg meines Lebens vor.

Meine Beine schmerzten. Da sahen wir die Grenze zu Österreich. Ein Mann fragte nach unseren Papieren. Schließlich öffneten sich die Tore der Grenze für uns. In einer Turnhalle gab es Wasser und Haferbrei für alle. Auf dem Boden lagen bequeme Luftmatratzen mit fluffigen Decken- einfach ein Paradies. Mein großer Bruder sah die Matratzen, legte sich hin und schlief direkt ein. Ich aß zwei Schüsseln Haferbrei und legte mich dann neben ihn.

Drei Monate vergingen … .

Es war ein besonderer Tag. Heute sollte ein Bus kommen und alle Menschen aus dem Lager nach Deutschland bringen. Ich war aufgeregt und hoffte, dass die dritte Reise die letzte werden würde. Wir saßen ungefähr sechs Stunden in diesem Bus. Es wurde langsam echt stickig aber ich dachte an die schöne Zeit, die wir in Deutschland haben würden. Dann kamen wir schließlich in Ingolstadt an. Dort wurden wir sofort in die Zentrale für Flüchtlingshilfe gebracht. Wir schliefen ein paar Nächte in der Unterkunft, bis wir bei einem Ehepaar unterkommen konnten. Sie waren sehr nett und gaben uns ein Zimmer zum Wohnen und halfen meiner Mutter, Arbeit zu finden. Ich war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt und konnte wieder zur Schule gehen. Auch meine Brüder konnten zur Schule gehen. Irgendwann hatte meine Mutter soviel Geld verdient, dass wir uns eine eigene Wohnung anmieten konnten.

Oma schluckte. Eine Träne lief über ihre Wangen. Ich nahm sie in den Arm. „Das ist meine Geschichte“, sagte sie mit zittriger Stimme. Mir wurde bewusst, wie gut ich es habe, hier und ohne Krieg zu leben. Ich hatte noch so viele Fragen, doch ich war schon fort im Land der Träume.