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„Der Weltraum, unendliche Weiten.“ So begannen damals die Episoden der  Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“. Dort oben im Weltraum genießt nicht nur die Besatzung des Raumschiffes die „unendlichen Weiten“. Seit jeher sind wir  Menschen von der schier unvorstellbaren Größe des Universums fasziniert.

Der alte Seemann, der sein Leben lang schon die Ozeane bereist, die etwa 80%   unseres Planeten bedecken, ist noch immer begeistert von der Weite der blauen  Wassermassen, auf denen man tagelang unterwegs sein kann, ohne Festland zu  entdecken.

Der Anführer einer Wüstenkarawane, der sich jeden Tag in der größten Sandwüste  der Welt, der Rub al-Chali, befindet, empfindet sie noch immer als Wunder der   Natur. Die trockene Weite der wandernden Sanddünen findet er beinahe  berauschend.

Die amerikanische Prärie, Lebensraum der indigenen Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents und zahlreicher Tiere kann man stundenlang mit dem Auto durchqueren, ohne auch nur Anzeichen von Zivilisation vorzufinden. Wie  schön finden wir Menschen diese kilometerlangen, kerzengeraden Highways durch  die Weiten der Steppen der Prärie.

Die Serengeti, man nennt sie die „Endless Plain“ ist jedes Jahr Schauspiel der  „großen Migration“, bei der riesige Herden von wildlebenden Huftieren wie Zebras  und Gnus auf der Suche nach Nahrung hunderte Kilometer zurücklegen. Der Traum  eines jeden Safaritouristen, für den die Reise nicht nur wegen der Tiere, sondern vor allem auch wegen der Weite des Landes ein unvergessliches Abenteuer bleibt.

Die Tundra in Nordeuropa, ewige geradezu kälteanziehende Flächen, die jeden schwärmen lässt, der schon einmal dort war, denn alle finden die Weite dieses  kalten Landes fast schon meditativ.

Ungefähr hundert Meter über der Erde schwebt ein Heißluftballonfahrer in seinem Ballon dahin. Er will da oben die Weite genießen und aus seinem normalen Leben fliehen, das sich unten auf der Erde jeden Tag wiederholt.

Der Südpol, der jeden mutigen Abenteurer dazu einlädt, ihn zu bezwingen. Und sie alle wollten genau an diesen einen Ort, um Weite zu erleben.

Ein Bauer, der gerade sein eigenes Feld umpflügt, ertappt sich schon mal bei dem Gedanken über die schöne Weite dieser hügeligen Landschaft, der er seinen Lebensunterhalt verdankt.

Weite: etwas, was uns träumen lässt, Wünsche wahr  werden lässt und uns von tiefstem Herzen erfüllt. Die Weite ist nicht nur ein
Wort, es ist ein Gefühl. Etwas, das uns in unserem Alltag durch
den einfachen Gedanken daran vorantreiben kann, uns Lust darauf
macht, Neues zu entdecken. Wir sehnen uns danach.

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Doch ist Weite tatsächlich dieser romantische Traum der
Freiheit, Unbekümmertheit, Unbeschwertheit? Ist Weite nur gut?

Die Besatzung des Raumschiff Enterprise hat jahrelang ihre Familie nicht mehr  gesehen und am Schluss geht es ihnen doch nur darum, wieder nach Hause zurückzukehren.

Dem alten Seemann geht es ähnlich: auch er hat seine Geliebten jahrelang nicht mehr gesehen und vermisst sie sehr.

Der Anführer der Wüstenkaravane sehnt sich nach Gesellschaft. Es macht ihn  vielleicht traurig, denn viele schöne Gespräche entgehen ihm.

In der Prärie wurde durch Highways und Ansiedlungen viel von Menschenhand zerstört, und damit ist nicht nur Lebensraum für Tiere verloren gegangen, sondern auch der ursprüngliche Lebensraum der indigenen Bevölkerung. Heute leben sie nämlich oft in abgetrennten Resorts. Wie empfinden sie wohl die Weite um sich? Ist  Weite nicht auch Abgrenzung?

Auch der Safaritourist ist am Ende seiner Reise froh, wieder nach Hause zu kommen, denn er vermisst seine Wohnung (und hier insbesondere die warme Dusche J), aber vor allem seine Familie und Freunde.

In der Tundra mag es zwar viel Weite geben, doch für die Insassen der dort erbauten Arbeitslager ist das wohl ein schwacher Trost. Die oft politischen Gefangenen werden auf diese Weise von der Öffentlichkeit abgeschirmt, um sie  mundtot zu machen. Dabei hilft die Weite der Tundra.

Der Heißluftballonfahrer ist froh, wenn er heil wieder auf die Erde kommt. In seinem Haus erwartet seine Familie ihn nämlich schon sehnsüchtig und als der Ballonfahrer am nächsten Tag ins Büro geht, genießt er die Nähe zu seinen Arbeitskollegen, denen er von seinem luftigen Abenteuer erzählen kann.

Am Südpol ist die Bevölkerungszahl gleich null. Und das hat auch einen Grund:  menschenfeindliche Lebensbedingungen. Wer würde dort ewig verweilen wollen?

Nach einem Tag Traktordröhnen auf dem weiten Feld kann der Bauer wohl das Gekicher seiner Kinder gar nicht mehr erwarten. Den Duft eines schönen Abendbrots und die Zuwendung seiner Frau. Nach so viel Weite und Einsamkeit ist es nämlich für ihn immer schön, wieder Nähe zu verspüren.

All diese Personen haben eine Sache gemeinsam:

Sie sind gerne allein.
Die Weite gibt ihnen ein Gefühl der Freiheit.

Und doch:
Sie fühlen sich irgendwann einsam.
Und allein sein mag auf Dauer niemand … so schön die Weite auch sein mag.

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„WEITE IST GUT – ABER NÄHE ZU MENSCHEN UND
GESELLSCHAFT IST AM ENDE DOCH VIEL BESSER. ODER?“

Mein Herz klopfte, in meinem Kopf wuselten die Gedanken. Wer war im  Wohnzimmer? Ich zog meine Bettdecke bis zu meiner Nase hoch. Eine Weile  verging. Ich nahm all meinen Mut zusammen und schlich nach unten. Dort saß jemanden auf dem Sofa in eine Decke gewickelt. Es war meine Omi. „Was machst du hier? Kannst du auch nicht schlafen? Soll ich uns einen Tee machen?“, fragte ich meine Oma, die sich abrupt umdrehte. ,,Ach, alles gut mein Schatz, ich war nur kurz mit meinen Gedanken weg“, antwortete meine Omi. Ich fragte sie:,,Willst du es mir erzählen?“ ,,Mein Schatz ich möchte dich nicht mit unangenehmen Dingen belasten“, sagte sie mit einer traurigen Mine. So kannte ich meine Oma gar nicht. ,,Ach komm schon Omi“, bettelte ich, ,,erzähle es mir!“  Meine Omi fing an zu erzählen:

Du weißt ja, unsere Familie kommt aus Syrien. Ich wurde dort geboren. 2011 fing dort ein Bürgerkrieg an. Ich war gerade einmal drei Jahre alt und bin ab dem Zeitpunkt im Krieg aufgewachsen. Zur Schule ging ich fast nie. 2021 entschloss meine Mutter, mit mir und meinen Geschwistern zu flüchten. Sie hielt es nicht mehr aus. Im Januar hatte man meinen Vater erschossen und meine Mutter hatte Angst, dass dasselbe auch uns passieren würde. Wir lebten in Hamah. Hamah war recht nah am Meer gelegen, weshalb wir uns entschieden, übers Meer zu flüchten. Es
war gefährlich, doch noch gefährlicher war es, hier zu bleiben. Zu dem Zeitpunkt war ich dreizehn Jahre alt und ich wusste, dass sich mein Leben komplett umstellen würde. Im Mai ging unsere Reise los. Wir fuhren an mehreren Inseln vorbei. Die erste Nacht war die schlimmste meines Lebens. Ständig hatte ich Angst, vom Boot zu fallen und es musste immer jemand wach bleiben. Meine Mutter, meine drei Geschwister und ich waren noch mit zehn anderen Leuten auf dem Boot. Die
Tage vergingen. Jeden Tag sah ich die Weite des Meeres und hoffte, dass ich mal Land sehen würde. Eines Nachts, ich hatte schon lange nicht mehr gezählt, die wievielte es war, schrie jemand „Land, Land“. Ich sprang auf, was auch die anderen auf dem Boot taten. Plötzlich kam Wasser in unser Boot und immer mehr Wasser, bis wir schließlich umkippten. Das Boot kenterte. Es war kalt, dunkel und ich hatte Angst um mein Leben und um das meiner Familie. Ich hörte die Schreie meiner Mutter und die meiner kleinen Brüder Feras und Marwan. Maron, meinen großem Bruder hörte ich nicht. Ich schwamm und schwamm. Mein Mund füllte sich mit Wasser. Auf einmal packte mich etwas von der Seite. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich aufwachte, beugte sich mein großer Bruder über mich. „Hala! Du lebst!“, schrie er freudig. „Los, wir müssen Mama, Marwan und Feras suchen. Ohne sie gehe ich nicht weiter.“

Ich schluckte. Mama und meine kleinen Brüder waren nicht mit uns am Strand. Angst stieg in mir auf. Was sollten wir tun? Ich wollte sie nicht verlieren. Fünf Minuten saßen wir bestimmt noch am Strand und überlegten, was wir tun sollten. Und die anderen, die mit uns auf dem Boot waren? Was ist mit denen?, fragte ich meinen Bruder. „Ich habe fast alle schon gesehen. Sie gehen ins Flüchtlingslager nach Pisa. Das ist aber sehr weit weg. Wir brauchen bestimmt mehrere Tage, um
dorthin zu laufen.“, erzählte mir mein Bruder. Wenigstens gab es ein paar gute Nachrichten. Doch es graute mir davor, mehrere Tage zu laufen. Ich flehte meinen Bruder an, noch einen Tag zu warten, da ich noch zu erschöpft war. Ich wollte nur schlafen. Mein Bruder sah mir das anscheinend an und willigte ein, wofür ich ihm sehr dankbar war. Wir liefen am Strand entlang und fanden Koffer, die wahrscheinlich mit uns angespült worden waren. Drei Koffer davon gehörten uns. Am Strand entdeckten wir eine Strandbar, wo wir für eine Nacht übernachten konnten.Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg nach Pisa. In der Unterkunft hatten wir eine Landkarte bekommen. Dieser folgten wir und kamen an einen Fluss. Dort legten wir eine Rast ein. Die Vögel zwitscherten und es ging ein leichter Wind. Die Tage vergingen und immer sah ich die Weite der Landschaft. Unterwegs waren wir per Anhalter oder mit dem Bus. Viel vom Weg liefen wir auch
einfach. Nachts schliefen wir oft in der Natur oder bei netten Leuten, die und  aufnahmen. Ich dachte oft an meine Mutter und an meine kleinen Brüder. Ich wusste nicht, ob sie überlebt hatten. Die Tage und Wochen vergingen und ich weinte viel. Irgendwann war der Tag gekommen. Es war Abend und die Sonne ging schon unter. Da hörte ich Kinder lachen und Eltern rufen. Ich glaubte kaum, was ich
sah. Es waren große weiße Zelte. Wir hatten es geschafft. Vor einem großen Tor sah ich jemanden stehen. Diese Person war klein und erinnerte mich an meinen  Bruder. „Feras!“, schrie ich vor Glück. Mein Mund war staubtrocken und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich war erschöpft, doch ich rannte. Plötzlich kam meine Mutter mit Marwan um die Ecke. Es war der schönste Moment in meinem Leben, als ich sie endlich wieder in die Arme schließen konnte. Doch
ich wusste, es war erst der erste Teil unserer Reise geschafft. Ein halbes Jahr lebten wir gemeinsam in dem Flüchtlingslager, bevor wir weiterzogen. Noch einmal machten wir uns auf einen langen Weg. Noch einmal wusste ich nicht, was mich erwarteten würde. Doch dieses Mal waren wir als Familie wieder zusammen. Wir liefen und liefen. Irgendwann nach bestimmt einem halben oder dreiviertel Jahr, kamen wir an. Langsam sahen wir am Horizont ein leichtes Licht. Meine Mutter blieb stehen. Ich sah in ihrem staubigen Gesicht, wie erleichtert und froh sie war. Mit erschöpfter Stimme sagte sie: „Wir haben es fast geschafft!“ Mein kleiner Bruder Marwan machte kleine Luftsprünge. Feras war auf meinem Arm eingeschlafen. Er war einfach zu erschöpft gewesen. Genau wie mein großer Bruder und ich. Mama sagte zielstrebig: „Dieses kleine Stück schaffen wir noch. Auf geht’s!“ Aber dieses kleine Stück kam mir wie der weiteste Weg meines Lebens vor.

Meine Beine schmerzten. Da sahen wir die Grenze zu Österreich. Ein Mann fragte nach unseren Papieren. Schließlich öffneten sich die Tore der Grenze für uns. In einer Turnhalle gab es Wasser und Haferbrei für alle. Auf dem Boden lagen bequeme Luftmatratzen mit fluffigen Decken- einfach ein Paradies. Mein großer Bruder sah die Matratzen, legte sich hin und schlief direkt ein. Ich aß zwei Schüsseln Haferbrei und legte mich dann neben ihn.

Drei Monate vergingen … .

Es war ein besonderer Tag. Heute sollte ein Bus kommen und alle Menschen aus dem Lager nach Deutschland bringen. Ich war aufgeregt und hoffte, dass die dritte Reise die letzte werden würde. Wir saßen ungefähr sechs Stunden in diesem Bus. Es wurde langsam echt stickig aber ich dachte an die schöne Zeit, die wir in Deutschland haben würden. Dann kamen wir schließlich in Ingolstadt an. Dort wurden wir sofort in die Zentrale für Flüchtlingshilfe gebracht. Wir schliefen ein paar Nächte in der Unterkunft, bis wir bei einem Ehepaar unterkommen konnten. Sie waren sehr nett und gaben uns ein Zimmer zum Wohnen und halfen meiner Mutter, Arbeit zu finden. Ich war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt und konnte wieder zur Schule gehen. Auch meine Brüder konnten zur Schule gehen. Irgendwann hatte meine Mutter soviel Geld verdient, dass wir uns eine eigene Wohnung anmieten konnten.

Oma schluckte. Eine Träne lief über ihre Wangen. Ich nahm sie in den Arm. „Das ist meine Geschichte“, sagte sie mit zittriger Stimme. Mir wurde bewusst, wie gut ich es habe, hier und ohne Krieg zu leben. Ich hatte noch so viele Fragen, doch ich war schon fort im Land der Träume.

Unerwartet hallte die Türklingel durch die von Morgenlicht getränkten, mit müden Jalousien verhangenen Zimmer meines kleinen Apartments. Unerwartet, ja so ließ sich auch das bezeichnen, was vor der abgenutzten Wohnungstür mit Engelsgeduld auf mich wartete. Es war klein und kantig, der Körper faltig und vernarbt, an einer Ecke durchnässt, trotz sonnigem Frühlingswetter, in bunte Rüstung gehüllt. Trotz seiner Größe thronte es Stolz über meiner bräunlichen Fußmatte, als gäbe es keinen Ort, den es lieber besetze. In halbe Schlaftrunkenheit verhüllt, nahm ich den Reisenden in mein Zuhause auf, erfüllt von den Fragen „Woher?“ und „Warum?“. Es war nicht schwer, nein sogar überraschend leicht und ließ sich höflich zu Tisch bitten. Zügig zog ich die schweren Rollläden hinauf, die die Wohnung noch vor wenigen Minuten in ein wohliges Zwielicht tauchten, jenes Zwielicht, dass man als Kind gefürchtet, mit dem Alter jedoch verschlafen lieben gelernt hatte. Mein Gast verblieb während diesen wenigen Minuten auf dem Wohnzimmertisch wie jenes Dunkelheit-fürchtende Kind, dass dem Erwachsenen voll Neugier bei seinen Tätigkeiten hinterherblickte, voll Freude, trotz vollständiger Unwissenheit. Doch die Neugier sollte bleiben, denn ich entschloss mich zu frühstücken, bevor ich mich weiter mit dem bunten Besucher befasste. Eine warme Brise zog durch das Küchenfenster, es würde ein netter Tag werden, dachte ich, während ich zwei Toastscheiben abenteuerlich in die Tiefe des Toasters stürzen ließ und die Marmelade heroisch auffing, welche mir, aus dem Kühlschrank fliehend, in die Arme fiel. Erschreckt durch eine rauschende Kaskade aus warmen Kakao stolperte ich ungewiss in Richtung Balkontür, fand Halt an dem weißen Plastikgriff und ließ mich erschöpft auf den hinter jener stehenden Klappstuhl sinken, während ich die braunen und beigen Häuserdächer überblickte, Wächter einer erwachenden Morgensonne.

Was musste der Besucher wohl von mir denken? Vielleicht amüsierte er sich heimlich und kicherte verlegen in seine bunten Gewänder oder trippelte ungeduldig mit seinem nassen Fuß auf dem glatten Holz des Wohnzimmertisches in der Hoffnung mit einer baldigen Reaktion von seinem stillen Gastgeber zu rechnen. Viele Möglichkeiten, Stimmlagen und Dialoge wanderten karavanengleich durch die Wüste meiner Gedanken, manche erfüllt von Freude, andere von Unbehagen, alle jedoch waren sie auf der Reise. Wohin? Wer weiß. In die Weite, schätzte ich. Dorthin, wo mein verhüllter Gast gewesen war.

Der Tag schritt langsam der Mittagszeit entgegen, als ich mich endlich an den nun hell erleuchteten Tisch setzte, dem Reisenden gegenüber, der respektvoll in der Tischmitte verweilte, auf ein Zeichen der Konversation wartend, und von reiner Vorbehaltslosigkeit erfüllt, doch er würde weiter warten, denn kein Wort verließ mich in diesem Moment. So saßen wir da in stiller Einheit mit dem Blick auf den jeweils anderen gerichtet, wenn man die zwei kleinen Dellen an seiner linken Seite als Augen ansehen konnte. Ich räusperte mich ein, zwei, dreimal, beugte mich nach vorn, wollte den Mund gerade öffnen, doch da hörte ich ein helles Zwitschern. Ein Rotkehlchen hatte sich mit ausreichender Distanz zu uns auf den kleinen Pflaumenbaum, der auf dem Balkon seinen Platz gefunden hatte, gesetzt und trillerte versöhnliche Töne in Richtung unserer stillen Zusammenkunft.

Vielleicht kannten sich die beiden Gäste, vielleicht auch nicht. Die Anonymität fand ich durchaus charmant und drum schloss ich für 2 Augenblicke die Augen und ließ die fremden Melodien durch meinen Geist wandern. Währenddessen verstummte der bekannte Großstadttumult gänzlich, als hätte er seine eigene Unhöflichkeit der Situation zuliebe eingestellt, und zurückblieb das seichte Heulen der Winde durch die hohen Gassen, dass sich, wie ein reisender Sänger, dem Lautenspiel des roten Musikanten anschmiegte. Es entfloh mir ein zufriedenes Lächeln. Nur ein Kind der Ironie und des Zufalls, die uns hier zusammenbrachten, wie eine Familie, die zusammen am Esstisch sitzt. Jedoch waren wir keine Familie. Wir waren Fremde, Reisende unseres eigenen Lebens, Wesen voll stummer und lauter Kuriosität.

Wenige Momente später trennten wir uns. Die Stadt tönte wieder, das Rotkehlchen segelte schweigend der Mittagssonne entgegen. Nur ich und der Gast verblieben und blickten dem kleinen Vogel sehnsuchtsvoll nach. Jedenfalls ging ich davon aus, dass der Fremde, mit seiner rechten Seite von warmen Lichtstrahlen beschienen, dies ebenfalls tat. Fragen sprudelten wieder durch Kopf und Hals, als ich die unbekannte Schrift betrachtete, die dessen Haupt zierte. Sie war kunstvoll mit schwarzer Farbe gezogen, voll Rundungen und Strichen. Ein Kunstwerk, das nur darauf wartete, dass ihm jemand die Ehre des ersten Lesens erwies. Voll Verlegenheit war ich deshalb in meiner Unwissenheit gegenüber jener Schrift und der Kultur, die sie so freundschaftlich verfasst hatte. Zum ersten Mal erklang in mir der Ton der Überwindung, der Wille aufzustehen und jenes ferne Land zu ergründen. Ich würde es mir überlegen.

Schließlich brach der Nachmittag an und mit ihm die vielen kleinen Imperative, denen es sich zu widmen galt. Allerdings war der bunte Besucher nie weit entfernt. Ironisch, bedachte man die Weite, aus welcher er gekommen war. Und wie ein farbenfroher Klebezettel blieb mir sein Bild ständig im Gedächtnis, wie ein Abenteurer, der ein wertvolles Artefakt nicht loslassen will. So näherte sich die Sonne schüchtern dem Horizont an, als ich mich wieder an dem Tisch einfand, ermüdet durch den Tag und seine Fragen. Umso mehr beglückte mich die Stille, die sofort zwischen uns einkehrte, als hätte ich meinen Stuhl nie verlassen. Wieder vergingen die Sekunden, Minuten, Momente und zu keinem Wort geneigt saßen wir uns gegenüber. Wäre seine braune Papierhülle eine raue und steile Felswand, wie lange würde es wohl dauern sie zu erklimmen? Was würde oben auf mich warten? Vielleicht ein Fleckchen dunkelgrünes Gras, auf welchem man, erschöpft von dem Aufstieg und der Hitze des vergehenden Tages, der Sonne beim Untergehen über tiefen Schluchten, belebt durch fremde Flüsse, zuschauen könnte. So wie wir es nun durch die müden Fenster der Wohnung taten.

Mit dem Einbruch der Nacht und der langsamen Ankunft des kühlen Vollmonds begannen sich meine Gedanken zu beschleunigen. Erst in spielerischem Zickzack, dann in Kreisen, als wären sie selbst kleine bunte Monde, die den Reisenden umrundeten. Je mehr das blendende Mondlicht uns ummantelte, desto schneller wurden sie. „Kling!“, klang es plötzlich. „Kling!“ ertönte es erneut. Zwei der kleinen Himmelskörper mussten kollidiert sein und kreuzten tapfer ihre Degen am Nachthimmel meines Verstandes. „Kling Kling Kling!“ Das metallische Klirren wurde frequenter, hastiger, während meine Hand langsam damit begann, meinen Besucher wie eine Viper zu umschlängeln. Nun wusste ich ganz genau, welche Einfälle dort um Leben und Tod fechteten und mir blieb nichts anderes übrig, als die Zuschauerrolle einzunehmen. „Kling Kling Kling Kling!“ Aus dem gesitteten Tugendgesteche wurde ein hitziger Schlagabtausch. „Zissssschhhhhh“, machte es, denn mit einem kämpferischen Knistern schmolzen ihre Klingen, während meine Hand das bunte Gewand meines Gegenübers packte. „Wusch!“ immer heller wurde es, als meine zweite Hand sich erhob und scharf wie eine Klinge auf den Gast zuschoss. Ich konnte nicht denken, nicht einmal meinen Blick aus blassem Entsetzen abwenden, geschweige denn, dass ich wusste, dass ich dies überhaupt wollte. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Flamme um Flamme entstieg den Kämpfern, heller und heller wurde das Licht und tiefer und tiefer fiel ich in eine paradoxerweise eiskalte Trance. Ein letztes Mal gelang mir ein kurzer Blick aus dem Fenster, auf den Mond, die Schemen der Stadt und auf den Sternenhimmel, an dem ich, so glaubte ich jedenfalls, zwei winzige Sonnen glühen sah.

Als ich am nächsten Tag auf dem sehr unbehaglichen Wohnzimmerstuhl erwachte, hatte die Sonne schon ihre Farben in jede Ecke der Wohnung gestrichen. Sie war eine gründliche Malerin. Zu meiner Überraschung war mein Gast geblieben und verweilte mit ein, zwei Knicken in seinem Gewand auf dem Tisch. Ich fand in meiner Verlegenheit bezüglich der letzten Nacht doch eine Portion Frohsinn, richtete mich auf und ging schließlich ohne weitere Worte oder bloß ein Räuspern zu äußern. Wohin? In die Weite, schätzte ich und entschied mich dabei, das Paket nicht zu öffnen.

Unerwartet? Vielleicht.

Die Sonne geht unter und wir reden über nichts was eine Bedeutung hat.

Die Sonne geht unter und ich sehe unsere Zukunft in der Ferne.

Ich schließe die Augen.

Ich will hier sein, genau hier für immer.

Wir reden über die Zukunft als sei sie in Stein gemeißelt.

Wir reden darüber zu gehen und wieder zukommen obwohl wir eigentlich hier bleiben wollen.

Hier wo wir jeden Marienkäfer kennen.

Mein Leben unterteilt sich in Momente und Erinnerung und in Gefühle und wenn ich an dich denke ist alles warm.

Wir reden darüber später zusammen zu wohnen und zum Studieren weg zu ziehen.

Mein Leben ist so weit, wie der Horizont und doch so kurz wie dieser Sonnenuntergang.

Wir reden über nichts was eine Bedeutung hat und ich weiß, dass du es auch spürst.

Die Unsicherheit, die Nervosität aber auch den Mut und die Freude.

Unser ganzes Leben liegt noch vor uns, aber selbst wenn wir für immer hier in diesem Moment bleiben, könnte ich mir nichts schöneres vorstellen.

Jeder Moment ist ein Teil meines ganzen weiten Lebens.

Diese Weite ist unbeschreiblich und macht mich aus.

Die Weite lässt sich unterteilen in Menschen, Gefühle und Erinnerungen.

Ich weiß, dass du sie auch siehst und spürst, dass du auch Angst hast vor jedem Schritt,

aber jetzt zählt nur die Belanglosigkeit.

Und mit jedem Schritt den ich gehe weiß ich, dass du hinter mir bist.

Mit jedem Schritt den ich falle, weiß ich dass du mich auffängst.

Mit jedem Schritt den ich rückwärts gehe weiß ich, dass du mich wieder nach vorne schubst.

Irgendwann werde ich auf all dies zurückblicken und ich hoffe ich kann die Sonne noch sehen, dein Lachen noch hören und die Wärme und Geborgenheit spüren.

Und ich hoffe die Sonne, der Mond und die Sterne strahlen noch gleich und ich hoffe, dass mein Leben sinnvoll war und ich etwas gutes getan habe, und ich hoffe das Gras riecht noch frisch und deine Eltern grüßen mich noch und wir treffen uns an der Ecke.

Ich hoffe, dass wenn mein ganzes weites Leben vorbei ist, die Sonne mich nachhause bringt.

Es gibt viele Geschichten auf dieser Welt. Märchen und Sagen, Fabeln und Legenden, Tragödien und Komödien, Romanzen oder Heldengeschichten. Geschichten aus der Fantasie, Geschichten aus der Realität oder Geschichten, bei denen man es nicht so genau weiß. Lügengeschichten, Wharheitserzälungen oder einfach Wahnerzählungen. Geschichten, die spontan erfunden werden und kaum die Oberfläche kratzen oder Geschichten, die in die tiefe gehen. Und dann gibt es noch die Lebensgeschichte.
Und meine Lebensgeschichte ist alles andere als schön. Man könnte sie ebenso wenig einfach und simpel nennen, wie man sie fröhlich nennen könnte.
Aber das ist in Ordnung, denn am Ende des Tages, hat nichts einen wirklichen Sinn.

Ich heiße Edgar Egal und ich bin Ordnungspolizist. Ich arbeite in Berlin der 1920er Jahre und jeder schwärmt hier von Feiern und dem beliebtem Schlager, aber ich halte es alles nur für unsinnig. An meiner Stelle am Berliner Hauptbahnhof kommen mindestens zwei verlorene Tänzer oder Sänger vorbei und fragen mich nach dem Weg zum Potsdamer Platz. Es hängen hier Schilder. Wenn sie den Weg dorthin nicht finden, werden sie den Weg an das Rampenlicht auch übersehen.
Jeden Tag verbringe ich meine Zeit damit, Gauner wieder auf den rechten Pfad zu rücken. Das ist leichter gesagt, als getan. Ich muss jeden Morgen um Punkt 5 Uhr an meiner Arbeitsstelle sein und leider ist der Bahnhof der anfälligste Ort für Kriminalitäten. Neben den toten Zügen bewegen sich die Diebe wie Schatten und wenn ich eine Frau schreien höre, weiß ich, dass die Bande der Berliner Schatten nicht weit ist. Meine Arbeit ist es eigentlich, sie zu verhaften und zur Station zu bringen und früher habe ich das auch getan. Aber ich habe keine Nerven mehr dafür. Die Kriminellen lernen nie aus ihren Fehlern. Warum soll ich sie festnehmen, wenn ich jeden Tag das selbe tun muss? Sie sind doch harmlos. Ich darf aber nicht zu unforsichtig sein. Ich habe nämlich so einen Vorsitzenden, Herr Petermann. Ich darf also nur 3 mal am Tag ein Auge zudrücken. Und das wissen die Diebe. Wir haben also eine Art Vertrag. Der steht aber nur weil ich keine Lust habe einen Haufen Papierkram auszufüllen. Bei der Häufigkeit der Diebstähle verliere ich doch den Überblick und ich habe wirklich keine Zeit für so etwas.

Warum erzähle ich euch das alles? Ach ja. Lebensgeschichte. Wie bin ich hier gelandet? Warum bin ich noch hier wenn ich es so furchtbar finde? Frag ich mich auch.

Der einzige Grund, weshalb ich noch hier bin, ist meine Familie. Mir kann alles egal sein, aber an meine Familie kommt keiner heran.

Gut haten wir es knapp. Ich will es nicht zu sehr in die Weite ziehen.

Ich bin arm aufgewachsen. An meinem achten Geburtstag verließ uns mein Vater. Wenn man ihn überhaupt so nennen kann. Es blieben nur ich, mein Bruder und meine arme Mutter zurück. Wir konnten nirgendswo hin und wir verbrachten Jahre auf der Suche nach Unterkunft. Meistens schliefen wir in einem engen Zimmer in einer Gaststätte, die zum Zertrümmern drohte. Das ist, wenn wir es uns an diesem Abend leisten konnten. Im Alter von 14 Jahren hatte ich mehr auf einer Parkbank oder in einer verlassenen Gasse übernachtet als ich auf den Fingern zählen konnte. Aber dann begann ich bei einer Zigarettenfabrik zu arbeiten und konnte es mir öfter leisten für ein Bett zu bezahlen. Aber ich ging nicht mehr zur Schule und ich merkte wie ich von rebellischen Obdachlosen wie ich beeinflusst wurde. Im Alter von 17 Jahren begann ich den größten Fehler meines Lebens. Aber dieser verwandelte sich in den größten Segen, den ich mir damals hätte vorstellen können. Ich brach, zusammen mit einigen Freunden, nachts in einen geschlossenen Markt ein um Essen zu stehlen. Aber wir wurden von einem Offizier erwischt und er schleppte uns zur Station ab. Aber er überlegte es sich anders. Er machte uns ein Angebot. Wir sollten eine Ausbildung zu Polizisten abschließen und im Gegenzug würde er uns nicht verraten. Ich verstand den Grund für seine Kompromissfreudigkeit damals nicht. Aber mit der Zeit lernte ich, dass er bloß das Interesse hatte Kinder von den Straßen zu holen und sie zu beschützen. Und das konnte er nur erreichen indem wir uns selbst beschützten. Dafür werde ich ihm mein Leben lang dankbar sein. Ich sah dieses Angebot als Ausweg aus unserer Armut und dies war es auch. Ich verdiene als Ordnungspolizist genung Geld, um meiner Familie das Leben finanzieren zu können.
So groß ist sie aber nicht mehr. Letztes Jahr erkrankte mein Bruder an einer mysteriösen Seuche und satrb mit nicht mehr als 18 Jahren.
Ich bin nun 25 und frage mich, was ich hier überahupt noch mache. Ich kann meine Arbeitskollegen nicht ausstehen. Sie benehmen sich alle wie ein Haufen Marionetten für den Affen, der uns da oben mit seinen Waffen herumkomandiert. Ich leide daran, jeden Morgen aufstehen zu müssen um den selben Idioten am Bahnhof sagen zu müssen, wie albern ihre Streiche sind. Ich habe keine Nerven mehr, die Kriminellen einzusperren. Sie werden doch sowieso wieder herausgelassen oder entkommen irgendwie und der ganze Blödsinn fängt wieder von Neuem an.

Meine Mutter liegt nun auch im Sterben. Ihre Leber hat den ganzen Alkohol wohl nicht ertragen.

Was mache ich hier denn noch? Der einzige Freund, den ich habe, ist ein Hund. Man kann Menschen nicht vertrauen. Sie benutzen und dann verlassen sie einen und brechen damit all ihre leeren Versprechen. Deshalb gehe ich auch nicht auf Parties. Wozu auch? Ich brauche keine Freunde. Aber wegen meinem Chef werde ich nun gezwungen auf eine zu gehen. Er meinte ich soll mich „schick“ anziehen. Was soll das heißen? Ich ziehe an, was ich immer an habe.

Ich habe es anfangs wirklich versucht. Glauben Sie mir! Ich habe versucht der Held zu sein, aber es war alles für nichts. Und wenn schon die Erde morgen untergeht? Soll sie doch! Ist mir doch egal. Ist mir auch recht. Das letzte, was ich nun noch brauche, ist, dass meine Vorsitzenden herausfinden, dass ich in Wahrheit eine Frau bin. Eigentlich heiße ich ja Lisa Lieblich. So steht’s auf der Geburtsurkunde. Meine Familie weiß aber auch nicht, dass ich auf der Arbeit Geschlechter wechsle. Wenn meine Mutter das wüsste, würde sie wirklich in den Tod gehen. Aber es ist nunmal der einzige Weg erfolgreich zu sein in dieser Welt. Als Frau wäre ich niemals Polizistin geworden. Das Wort existiert nicht einmal! Männer sind so egoistisch und eingebildet. Deshalb ist es so einfach für sie! Sie machen ein System was nur für sie gedacht ist. Und dann wir davon geredet, dass das selbe Geschlecht die Frauen beschützen soll! Ich bitte Sie! Ich kann mich besser beschützen als irgendein Testosteron-geladenes Kind.
Lisa Lieblich? Die gibt’s nicht mehr. Aber ganz ehrlich, wenn man sie entdeckt, ist es dem Edgar aber nun auch egal.

Der Weltuntergang ist noch weit weg. Aber wenn die Weite sich kürzt, kann ich Sie versichern, dass meine Nerven kürzer sind.
Sind wir jetzt fertig?

Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen und drücken mich hinunter, wo unsichtbare Fesseln mich zu ketten scheinen; zu ketten an die Dunkelheit, der ich so lange entronnen. Ich lächele... ein letzter Atemzug, verwandelt in tanzende Blasen. Wer weiß, was diese auf ihrem Weg noch alles sehen werden.

Ich begrüße die Tiefe mit einem Nicken und der Gewissheit, dass diese Begegnung anders ist als alle vorherigen und dass ich nicht erneut werde entkommen können. Und ich breite die Arme aus, lasse mich einen Moment treiben, dann schließe ich die Augen.

Ich habe erreicht, wohin ich schon immer gehörte.

Null. Eins. Eins. Null. Nullen und Einsen, Einsen und Nullen. Mehr braucht es nicht, um die Festplatte so viel leistungsstärker zu machen als mein Gehirn. Ein Blick in meinen Kalender zeigt mir, wie ich den Tag zu verbringen habe. Fotos zeigen längst vergessene und verblasste Momente. Die neuesten Nachrichten spiegeln die Grausamkeit der Welt wider und geben mir ein Gefühl von innerer Leere. Ein Druck lastet auf mir, der sich nicht in Worte fassen lässt. Ich habe alles, was ich brauche und so viel mehr; die Türen zur Welt stehen mir offen; ich könnte alles sein und alles werden, was ich nur will. Und doch sitze ich hier und schaue untätig zu, wie Sekunde um Sekunde vergeht, wie die Tage verstreichen und sich nichts in meinem Leben ändert, während um mich herum alles brennt. Ein Druck begleitet mich durchs Leben und ist er nicht da, so fehlt etwas. Der Druck ist mein stetiger Begleiter. Ich kann nicht sagen, wann er mir die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte – dieser Tag stand nicht in meinem Kalender.

Vielleicht sollte ich diese Tatsache als Beweis gegen die Unfehlbarkeit des Systems sehen und mich daran erfreuen. Die Festplatte ist zwar leistungsstärker, doch nicht allwissend. Die digitale Welt hilft bei der Schaffung neuer Möglichkeiten, doch ist nicht allmächtig. Sie erleichtert mir und zahlreichen Anderen den Alltag, doch je weiter sie fortschreitet, desto schwerer wiegt der Druck... Er schlägt seine Krallen in mein Fleisch und verzieht den Mund zu einem hämischen Lächeln. Er spottet über mich:

"Sag mal Schätzchen, was haben wir heute eigentlich erreicht?"

Nenn mich nicht so.

"Wieso denn nicht? Der Name passt zu dir. Du verhältst dich schließlich so, als würde dir alles geschenkt werden – sorglos. Ist dir klar, dass das nie passieren wird? Aus dir wird nie etwas werden, du wirst ewig hier festhängen, nichts aus deinem Leben machen und einen bedeutungslosen Tod sterben. Auf deinem Grabstein wird es heißen "Geliebtes Kind" – eine scheinheilige Lüge, verbietet die Höflichkeit doch eine treffendere Beschreibung. "Enttäuschung" klingt gut, meinst du nicht?"

Nein. Halt den Mund, sei leise. Ich bin das nicht und werde so nicht enden. Du irrst dich! Du musst dich einfach irren...

Der Blick in den Spiegel tut weh. Ich stehe neben mir selbst und schaue mich aus jüngeren Augen an, die zu fragen scheinen, was nur aus uns geworden ist. Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Noch immer bin ich ich, wenngleich verändert; doch ist Veränderung nicht der Teil des Lebens, der es lebenswert macht, der uns zu Menschen macht? Und sehen wir nicht uns und den Menschen, die wir lieben, unendliche Male dabei zu, wie sie sterben oder ein Teil von ihnen aufhört zu existieren, um zu etwas Anderem zu werden? Wer bestimmt also, dass ein Tod bedeutungslos ist, wo er doch die Stufe zu einem anderen Selbst sein kann, die es zu überwinden gilt?

Wieso habe ich solche Angst vor dem Ende...?

"Weil es für dich bloß noch eins geben wird, Dummerchen. Du hast Veränderungen seit Ewigkeiten besser gemieden als eine Katze das Wasser. Früher warst du anders. Du hattest Ziele. Doch hast du nie auch nur Anstalten gemacht, dich oder dein Umfeld anzupassen, um diese zu erreichen. Und schau dich heute an. Blickst nicht mal mehr in den Spiegel, um deinen eigenen Fragen zu entrinnen."

Der Druck spricht Wahrheit. Als kleines Kind schien die Welt so groß, die menschliche Existenz so lang und die Zeit, sie schlich dahin. Früher war der Tee, den ich trank, stets zu heiß; heute bin ich froh, wenn er nicht von gestern ist und Staub auf seiner Oberfläche schwimmt. Ich wollte damals nicht ins Bett, heute kann ich es nicht. Alpträume jagen mich umher; Gedanken halten mich wach. Das Leben ist unnahbar geworden, wie ein alter Freund. Ich weiß nicht, wann wir auf Wiedersehen gesagt haben, ob es jemals dazu gekommen war. Es hatte sich still davongeschlichen und nun stehe ich hier und wann immer sie unser Lied spielen, muss ich mitsingen und zurückdenken an die alten Zeiten; die guten alten Zeiten, in denen ich noch wusste, was ich mal mit mir anfangen wollte. Die Träume und Ideen stecken noch in mir, doch sind sie begraben unter einem Haufen unwichtiger Fakten und einem Mantel aus Bitterkeit.

Vielleicht ist es an der Zeit, diesen aufzuheben und die Fakten zurück in ihre Regale zu stellen.

"Aber klar doch, Hoheit, etwas Liebe, Zuneigung und Weltfrieden und schon wirst du wieder zu einem naiven Kind. Oh, warte... unter diesen Voraussetzungen wird da wohl eh nichts draus. Schade, schade."

Nein. Halt den Mund, sei leise. Ich bin nicht naiv. Ich habe Hoffnung. Und du wirst mir diese nicht in drei Sätzen wieder nehmen! Ich war lange genug ein Kind und lange genug nicht erwachsen. Ich habe lange genug nicht gelebt. Tage und Nächte in meinem Zimmer verbracht, ohne zu wissen, wie spät es war. Sorgen ertränkt und mein Kopfkissen mit Tränen gewässert. Ich habe dich lange genug genährt. Du bist das Problem, nicht ich. Du bist es. Du bist es, der nicht selbst laufen kann. Der nichts ist, solange er mir nicht ins Gewissen redet. Du bist es, der mich fesselt.

Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen und drücken mich hinunter, wo unsichtbare Fesseln mich zu ketten scheinen; zu ketten an die Dunkelheit, der ich so lange entronnen. Ich lache über diesen kläglichen Versuch und sie fallen ab.

Ich begrüße die Tiefe mit einem Nicken und der Gewissheit, dass diese Begegnung nicht die letzte sein wird und dass ich ihr immer wieder werde entkommen können, wenn ich nur will. Und ich breite die Arme aus, lasse mich einen Moment treiben, dann breche ich durch die Oberfläche.

Ich bin hier und ich lebe und alles wird gut werden.

Und kommt die Flut, gehe ich aus dem Wasser und warte auf sanftere Wellen.

Meine Gedanken. Ist es dir schon mal passiert, dass deine Gedanken genau im falschen Moment irgendwo ins Weite schweifen? Naja genau das ist mir passiert bzw. passiert mir oft. Wie zum Beispiel jetzt, ich höre meine Mutter rufen, aber anstelle ihr zu antworten, denke ich an diese Frau zurück, die unter den Trümmern lag und die ganze Zeit ihren Sohn rief. Er konnte sie zwar hören, aber ihr helfen konnte er genauso wenig wie sich bewegen, denn auf sein Bein war etwas großes Schweres gefallen und er hing fest. Ich glaube aber, dass niemand versteht, wovon ich rede, daher werde ich von vorne beginnen an den Tag, an dem alles anfing, an dem ich glaub, 6. Februar in Syrien. Ich saß ganz normal im Wohnzimmer, das gleichzeitig auch das Zimmer war, in dem ich lernte und auch schlief und es mit der ganzen Familie teilte. Wir hatten nämlich nur eine 2-Zimmer-Wohnung für 5 Personen, das eine Zimmer für meine Eltern und das andere für den Rest. Also, ich saß auf dem Sofa und lernte für die Schule, als plötzlich der Boden anfing zu beben. Ich hab mir erstmal nichts dabei gedacht, weil Syrien jetzt nicht wirklich ein Erdbebengebiet ist, aber mein Vater wurde nach mehreren Beben unruhig und rief meinen Onkel an. Mein Onkel wohnt zwar nicht in Syrien, aber mit Erdbeben und Wetter kennt er sich aus, ich glaub er ich Geologe oder so. Er riet uns, dass wir uns, sobald irgendetwas auf den Boden fällt, unter einem festen Möbel in Sicherheit bringen können. Rausgehen wäre nämlich gefährlich, weil wir im 12.Stock wohnen und das Beben, während wir die Treppen runtergehen, stärker werden kann und es dann zu spät für uns wäre und einen Aufzug haben wir nicht. Und tatsächlich, wenige Minuten, nein Sekunden später fingen die Lampen an zu flackern. Mein Vater sagte, wir sollen uns unter dem großen Esstisch verstecken, er wolle noch Wasser oder Essen oder so holen, falls wir hier festhängen. Alle hörten auf ihn, nur ich blieb sitzen und dachte über die Schule nach. Die ganze Zeit schweifen meine Gedanken ins weite Meer der Gedanken. Es ist nicht mal meine Absicht, aber es passiert einfach, dann denke ich über etwas nach und bin ganz weit weg von der echten Welt. Dieses Mal dachte ich über den Ausflug nach und den strengen Anweisungen der Lehrer, ich bin soweit mit meinen Gedanken, dass ich nicht mal bemerke, dass meine Mutter mich anstupst, erst als sie es fester macht, wache ich aus meinen Gedanken aus. Alle sind unter dem Tisch, außer mein Vater, ich krieche auch zu ihnen runter und schon fällt die erste Lampe. Das ist aber ein richtiges Erdbeben. Plötzlich hör ich meinen Vater stöhnen. Ich stehe auf, um zu sehen, was passiert ist. Erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund, mein Vater lag auf dem Boden und die Küchentheke mit dem ganzen Geschirr ist auf ihn gefallen. Er sagt mir, ich soll mich nicht um ihn sorgen und das Essen zu meinen Geschwistern bringen. Das tue ich auch, aber anstelle bei ihnen zu bleiben wie er es wollte, gehe ich wieder zu ihm und versuche die Theke anzuheben. Es gelingt mir dann letztendlich mit dem Fuß und ich will wieder aufstehen, als der Boden unter mir sinkt. Mein Vater ruft, ich solle unter den Küchentisch gehen, da es zu spät wäre, zum Rest der Familie zu gehen. Er passte aber nicht unter den Tisch und sagte, das schaffe er schon und genau in dem Moment fiel die Decke, ich weiß nicht genau, was danach passiert ist, weil, wenn ich dem Arzt richtig zugehört habe, mein Gehirn diese bösen Erinnerungen verdrängt hat. Aber man kann sich eigentlich auch denken, was passiert ist. Wie ich gerettet wurde weiß ich auch nicht mehr, ich weiß nur, dass ich dann auf einer Liege aufwachte und meiner Tränen und Blut überströmten Mutter ins Gesicht sah. So landeten wir dann in den Zelten, dort mussten wir uns mit zwei fremden Familien ein Zelt teilen. Es war so kalt dort und es gab so viel Arbeit, jeder hatte sein Zuhause oder gar alles verloren und musste jetzt hier leben. Aber zum Glück hatte ich noch meine weite Gedankenwelt, in der mein Vater noch lebte.

Ende –

Wir schreiben das Jahr 300 nach Christus in der Wüste Gobi. In der Oase von Mohamed und seinem Großvater beginnt die Geschichte. Mohamed ist ein eher kleinerer Junge mit sehr dunklen Haaren. Er hilft oft seinem Großvater bei dem Verkauf von Kamelen, die sie besitzen. Das macht ihm sehr viel Spaß, weil er dann das Verkaufen für die große weite Welt übte, wie sein Großvater zu sagen pflegte. Er durfte die Kamele auch füttern und reiten.

Sein Lieblingskamel hieß Kadu. Sie standen sich sehr nahe. Wenn er dann doch mal für die Schule ins Nachbardorf reiten musste, ritt er immer auf Kadu, der ihm sehr treu war.

Eines Tages ging er ins benachbarte Dorf, um die Schule zu besuchen. Dort überquerte er den Marktplatz und sah eine Menschenmenge, die einen merkwürdig gekleideten Mann umringte. Auf dem naheliegenden Schild stand „Prüfung für mutige Wüstenführer“. „Treffpunkt vor Sonnenuntergang hier auf dem Marktplatz“. Mohamed war begeistert und wollte sofort mitmachen, da er sich gut in der Wüste Gobi auskannte und da er seinem Großvater den Wunsch erfüllen wollte. Er beschloss nach der Schule wieder zum Marktplatz zu gehen, um sich anzumelden.

In der Schule angekommen konnte er sich den ganzen Tag nicht auf den Unterricht konzentrieren, weil er sich vorstellte, wie die Prüfung aussehen würde, die er unbedingt bestehen wollte.

Als die Schule dann endlich zu Ende war, freute sich Mohamed auf die Prüfung und rannte zu Kadu. Er gab ihm noch schnell etwas zu essen und zu trinken. Danach sprintete er los, um rechtzeitig am Treffpunkt anzukommen. Am Treffpunkt standen schon viele andere Kamelführer, die ihm bekannt vorkamen. Der Veranstalter der Prüfung war der merkwürdig gekleidete Mann, den Mohamed noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser Mann nannte sich einen echten Abenteurer und sagte, dass er noch einen mutigen Kamelführer für seine Reise benötigte. Er versprach eine hohe Belohnung, für denjenigen, der die Prüfung bestand und mit ihm durch die Wüste Gobi ziehen würde, um den legendären Schatz der Wüste zu finden.

Die Prüfung bestand darin ein wildes Kamel zu zähmen. Jeder hatte 3 Versuche. Die ersten 2 Versuche gingen bei jedem daneben. Entweder wurden sie vom Kamel heruntergeworfen oder sie schafften es einfach nicht, das Kamel ruhig zu halten. Mohamed überlegte, wie er das Kamel zähmen konnte. Mit roher Gewalt und Stärke konnte man es nicht zähmen, aber vielleicht mit ein bisschen Intelligenz. Also holte er aus seiner Kamelfelltasche seinen letzten Apfel heraus und gab ihm dem Kamel. Es beruhigte sich und aß den Apfel ganz auf. Nun konnte sich Mohamed dem Kamel nähern, es streicheln und unter seine Kontrolle bringen. Somit zähmte er das Kamel und bestand die Prüfung.
Erst wunderte sich der Abenteurer über einen so kleinen Jungen, der ein sehr wildes Kamel gezähmt hatte. Doch dann war sich der Abenteurer in seiner Wahl sicher und gab Mohamed die halbe Belohnung. Der Abenteurer namens Nick sagte zu Mohamed, dass er die andere Hälfte der Belohnung später bekommen würde. Nick setze Mohamed auch in Kenntnis, dass sie sich am Stadttor vor Morgengrauen treffen würden. Es war schon spät geworden, als Mohamed Kadu losband und nach Hause zu seinem Großvater ritt. Zu Hause angekommen fragte er seinen Großvater, ob er mit dem Abenteurer aufbrechen durfte, doch sein Großvater erlaubte es nicht. Also versteckte er die Belohnung in seinem Kopfkissen und schlief ein. Am nächsten Tag schlich er in aller Frühe mit Kadu zum Stadttor.

Das Abenteuer in der großen weiten Wüste konnte beginnen.

Als er fast 100 m vom Stadttor entfernt war, sah er schon den winkenden Abenteurer. Also ritt Mohamed noch schneller vor Freude. Als er bei Nick ankam zeigte er ihm eine Karte, wo der Schatz sich befinden könnte. Mohamed kam die Stelle bekannt vor und er dachte, dass er den ungefährlichsten Weg kannte. Also zogen sie los in Richtung Süden.

Derweil wachte sein Großvater auf und wollte Mohamed wecken, doch sein Bett war leer. Er suchte in der ganzen Hütte. Sie besaßen nicht viel, daher konnte er nur weg sein, um den Wunsch seines Großvaters zu erfüllen. Das begriff sein Großvater sehr schnell und organisierte eine Suche mit Bekannten von Mohamed.

Mohamed und Nick ritten weiter bis sie an einem merkwürdig geformten Felsen ankamen. Auf Nicks Karte war dieser Fesen abgebildet und darunter stand ein kleiner Text in alter Handschrift:

Dem Auge du nicht trauen darfst, sondern dem Finger du folgen musst“

Mit diesem Text konnte man aus dem geformten Stein ein kleines Augenlid erblicken, doch auf der rechten Seite war ein kleiner Finger abgebildet, der nach Westen zeigte. Fortan liefen sie Richtung Westen.

In der Zwischenzeit suchte sein Großvater und die anderen vergeblich: in der Schule, auf dem Hof, bei den Kamelställen und seinem Lieblingsplatz dem abgelegenen Baumstamm, der recht hohl war. Bis schließlich ein anderer kleiner Junge bemerkte, dass auch der Abenteurer verschwunden war. Da dämmerte es dem Großvater. Mohamed hatte ihn gefragt, ob er mit dem Abenteurer auf die Suche des Schatzes gehen durfte. Also entschied sich der Großvater kurzerhand den beiden „Abenteurern“ zu folgen.

Die Abenteurer waren mittlerweile an einer Höhle angekommen, vor der ein Rätsel stand. Auf dem Boden lagen viele kleine und große Tafeln aus Wüstenstein in denen mehrere Symbole und Zeichen eingemeißelt waren. Mohamed und Nick überlegten, wie sie das Rätsel lösen sollten. Nick sah auf seine Karte und bemerkte noch einen kleinen Text, der unter der eingezeichneten Höhle stand.
Er las in laut vor: „Um den Schatz zu erlangen, du die 4 Schätze der Wüste erkennen sollst“.

Mohamed bekam einmal von seinem Großvater gesagt, dass die 4 Schätze der Wüste die wichtigsten Sachen der Wüstensiedler seien“. Also nannte er ihm einen der 4 Schätze – das KAMEL. Was er auch noch zu Ohren bekam, dass die anderen drei Schätze jederzeit zu erblicken waren. So schaute sich Mohamed um und erkannte die Lösung. Die anderen drei Schätze waren: die SONNE oder der MOND, das WASSER und der SAND.
Also schob er die Steintafeln so in die Reihe, dass als erstes der Sand zu sehen war, dann die Sonne oder der Mond, dann das Wasser und zum Schluss die Kamele. Was dann passierte hätte sich keiner vorstellen können.

Der schwere Höhleneingang schob sich auf und was sie dann sahen, war erstaunlich und wunderschön.
Goldmünzen, wohin man sah, glitzerten in den Augen der Abenteurer. Mohamed konnte es kaum fassen, er hatte den Schatz der Wüste gefunden. Nick ging als erstes in die Höhle hinein, kramte zwei große Beutel aus seiner Tasche. Er füllte beide und gab einen Mohamed. Er sagte zu ihm, dass ist die andere Hälfte der Belohnung und er hätte seine Aufgabe sehr gut erledigt.


Plötzlich hörte er hinter sich Rufe. Als er sich umdrehte erblickte er seinen Großvater. Er freute sich so ihn zu sehen und stellte den Beutel ab. Er rannte zu seinem Großvater und umarmte ihn, der das erwiderte. Später ritt er dann mit seinem Großvater und Nick in sein Wüstendorf. Dort konnte er dann den Wunsch seines Großvaters erfüllen:
Eine größere Kamelfarm mit größerer Hütte und Garten. Die jetzige Farm und Hütte hätten sie schon bald verkaufen müssen. Dadurch konnte sein Großvater ihm eine bessere Zukunft ermöglichen. So konnte Mohamed einen Teil der großen weiten Welt bereisen und dann wieder zurück in sein geliebtes Wüstendorf zurückkehren, zu seinem Großvater und seinem Lieblingskamel Kadu.

Ja, es war lange her, sehr lange. Doch trotz allem konnte ich mich noch sehr gut erinnern. Und jetzt will ich mein Wissen an euch weitergeben. Es war lange her, ich selbst war nicht dabei, da man auch bedenken muss, dass ich erst 12 bin. Wieso ich es weiß, wenn ich nicht dabei war? Man hat diese Geschichte im Laufe der Jahrhunderte in meiner Familie weiter erzählt. Also es war im Jahr 912. Und ja, es waren Wikinger. Und heute wird ihnen nach gesagt sie wären Plünderer. Doch das stimmt nicht. Vielleicht haben sie manchmal ein bisschen über die Stränge geschlagen, doch im Grunde waren sie richtig gute Geschäftsleute, und meine Vorfahren. Ist doch klar, dass ich sie verteidige. Außerdem haben wir noch etwas ganz Wichtiges gemeinsam. Wir alle lieben die Weite. Doch erstmal, fangen wir an : Hell stand am Feuer. Sie hörte wie es beruhigend knisterte und raschelte, und die Glut höher zu kommen schien. Sie dachte traurig: ,,Wie ähnlich sie mir ist. Genau wie die Glut versuche ich hier wegzukommen, doch es klappt nicht.“ Da fasste sie einen Entschluss: ,,Ich werde hier keine Nacht länger mehr bleiben, auf keinen Fall. Es brachte nichts hier dumm rumzusitzen und hier zu warten, bis sie alt und grau wurde. Was hielt sie hier noch in diesem nassen verregneten Skandinavien? Nichts. Absolut nichts. Ihre Eltern waren vor mehreren Monden gestorben, ansonsten hatte sie hier niemanden, die Ernte ging hier nicht auf. Und sie hatte Sehnsucht nach dem Meer. Also gut, es war beschlossene Sache. Sie ging noch heute früh von hier weg! Einige schlossen sich ihr an und sie packten ihre Sachen, doch allzu viele waren es nicht, da das Meer gefährlich war und bei solchen Reisen immer nur die Hälfte zurückkam oder ankam. Doch die, die mitkamen, waren bereit das Risiko einzugehen. Denn alle von ihnen wollten nur eins, nämlich ein besseres Leben führen. Und als alle an Bord waren fuhren sie los. Mit vereinter Kraft (da sie rudern mussten) war das Dorf schon bald hinter einem Hügel verschwunden. Manche sah man noch vereinzelt winken, doch dann waren irgendwann alle verschwunden. Da sie oben an Deck saß, hatte sie genügend Zeit und zwar zum Nachdenken. Endlich, dachte sie, ich bin wieder auf dem Meer, wo die Weite mich hinzieht werde ich ihr folgen. Und doch hatten sie einen Plan wo sie hinreisen wollten. Sie hatten vor immer nach Westen zu fahren. So würden sie hoffentlich, so munkelt man, an einen schönen tollen wunderbaren Ort kommen. Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, denn sie waren in einen Sturm gerudert. Der Regen prasselte nur so auf das Deck und der Wind heulte, dass es nur so krachte. Und ihre Besatzung war bereits in Sicherheit. Sie versuchte sich unter Deck zu kämpfen, doch sie rutschte immer wieder auf dem nassen Deck aus. Gerade als eine Riesenwelle auf sie zu kam und sie mit sich reißen wollte, rutschte sie aus. Noch ein paar Meter, dann war sie bei der Luke. Doch die Riesenwelle brauchte auch nur noch ein paar Meter. So werde ich also verenden, am Grund des Ozeans. Wenigstens spüre ich dann für immer den Ozean. Doch dann senkte sich die Welle plötzlich und das Gewitter zog vorbei. Was war denn jetzt los? Wunderte sich Hell. ,,Danke, wer immer das auch war“ rief sie froh. Doch sie hatte da schon so einen Verdacht, ob es wirklich wahr war, zumindest hätte sie es so gerne. Sie liebte sie nämlich, obwohl ihre Eltern dort verendet waren. Doch sie fühlte sich ihr dadurch noch näher. Ob es wirklich die Weite gewesen war, wohl eher nicht, aber wer weiß es schon? Urplötzlich standen ihre Mannschaftskollegen vor ihr und schauten sie mit fragenden Blicken an. Sie wusste es ja selbst nicht so genau, also zuckte sie nur ahnungslos mit den Achseln. Und ging auf die andere Seite des Schiffes. Seltsam, was hatte sich nur vor ihren Augen abgespielt? Was wollte die Weite ihr nur damit sagen? Was würde passieren? Was würde folgen? So viele Fragen tummelten sich in ihrem Kopf. Doch jetzt gab es erst einmal Abendessen, Es ging nämlich schon bald die Sonne unter. Da sie wach bleiben musste für ihre Nachtruderschicht war es besser, wenn sie gar nicht erst einschlief. Sie holte sich etwas zu Essen und ging damit in eine Ecke des Bootes. Und so vergingen die Tage, Wochen, Monate und schließlich ein Jahr, als sie das letzte Mal etwas von der Weite gehört hatte oder wenigstens vom Ozean. Doch eines Abends spürte sie etwas, sie würden schon bald da sein, das wusste sie. Doch plötzlich schwammen auf der Meeresoberfläche überall tote Fische herum. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Sie kletterte auf den obersten Mast ihres Schiffes, es war ein Pfeil und dieser führte in eine ganz andere Richtung als sie eigentlich vorhatten zu fahren. Sollte sie dem Pfeil folgen, ja, auf jeden Fall. Sie schrie zu ihren Mannschaftskollegen: ,,Süden!“, ,,Süden!“ riefen einige andere weiter. Und sie steuerten in die Richtung wo der Pfeil hinzeigte.

Nach einigen Tagen sahen sie endlich Land. Endlich! In diesem Moment wusste sie, es würde alles wieder gut werden. Die ganzen Mühen waren nicht umsonst gewesen. Sie trafen schon bald in der Bucht ein. Ihr fiel es schwer die See zu verlassen, doch irgendwann war das Schönste auch mal vorbei. Ihren Mannschaftskameraden fiel es ganz und gar nicht schwer das Deck und somit auch das Meer, die Weite, zu verlassen. Aber sie fand es schwierig, für sie war die unendliche Weite ein zweiter Teil von ihr. Doch schweren Herzens verließ sie schließlich das Schiff. Sie schaute sich um, was für ein schöner Ort. Überall grünte und blühte es. Das Warten hatte sich also gelohnt, endlich war sie da und trotz allem war sie nicht so recht glücklich. Hell erkundete erst einmal die Gegend. Sie ging in einen Wald hinein wo komische grünliche Seile von den Bäumen herabhingen. Sie ging weiter und immer tiefer in den Wald hinein. Auf einmal sprach eine Stimme hinter ihr: ,,Was suchst du hier, Hell?“ Hell drehte sich erschrocken um. Wer hatte dort gesprochen? Es war ein kleiner Affe. ,,Was bist du?“ Fragte Hell. ,, Meinst du damit meine Gestalt oder was ich wirklich bin?“ ,, Beides“ antwortete ihm Hell zögernd. ,,Von außen sehe ich aus wie ein Affe, der sprechen kann, aber im Inneren bin ich Weite“ sagte der Affe. ,, die Weite?“ ,, Ja, die Weite. Ich bin die Verkörperung von Wüsten und Meeren, ich kontrolliere sie . Ich weiß, du suchst ein besseres Leben, baue hier und du wirst hier leben können.“ Nach diesen Worten verschwand er. Hell war einfach nur noch erstaunt und doch war sie einfach nur glücklich. Sie hatte die Weite kennen gelernt und sie konnte hier wohnen. Noch ehe sie es sich versah stieß sie einen Freudenschrei aus. Alles musste raus aus dem letzten Jahr. ,,Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!“

Falls dieses Lustspiel einen Preis gewinnen sollte, werden die drei Autoren jeweils  die Figuren verkörpern und eine schauspielerische Glanzleistung präsentieren. In diesem Sinne: Frohes Lesen!

 

Erste Szene: Ein altes Verlies.

Gefängniswärter Siegfried von Georgenhausen II, Günther, Friedrich

Siegfried: (In das Verlies tretend) Grüßt Gott, Sportsfreunde von der Heide! Der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht wahr, die Herren?

Friedrich: Sehr wahr, sehr wahr! Doch... (schreiend) Mein lieber Herr Gesangsverein,
wann werden wir endlich entlassen?

Siegfried: Ich sag mal so Ganove: Das Leben ist kein Zuckerschlecken.

Günther: Jetzt mach aber mal halblang, wir sind ja keine Übeltäter!

Siegfried: Und ob ihr welche seid! Dem guten Jürgen das Leben nehmen, nennt ihr
keinen Delikt? Halunken seid ihr!

Friedrich: Wie heißt es doch so schön? Den Jürgen musst du würgen, hat uns kräftig
Spaß bereitet. Nicht wahr, Günther?

Günther: Des einen Leid ist des anderen Freud, Kumpane.

Siegfried: Ihr habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Damit wollt ihr Spitzbuben eure
Schandtat rechtfertigen? Da werde ich ja fuchsteufelswild! Geht euch
vergraben, die Schaufel geht auf mich.

Günther: Na hör mal! Aber was ist mit meiner Familie? Meine Frau und Kinder warten
Zuhause auf mich... Obwohl, meine Kinder sind alle fünf Mal lebenslänglich
in Haft.

Siegfried: Na sowas! Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.

Friedrich: Ich meine, der Pole da drüben ist zum Beispiel auf einer Eisbahn
eingebrochen. Haha! Fast so komisch, wie ins Gefängnis einzubrechen.
Hahaha!

Siegfried: Ist noch alles fit im Schritt bei dir?

Friedrich: Alles in Butter!

Günther: Wie dem auch sei. Ich frag nochmal ganz lieb, könnten Sie uns bitte aus
diesem Verlies herausgeleiten, oder müssen wir doch die schweren
Geschütze auspacken?

Siegfried: Seid ihr gehirnamputiert, ich bin Gefängniswärter.

Günther: Naja, die dümmsten Bauern haben bekanntlich die dicksten Kartoffeln.

Friedrich: Du nimmst mir die Worte förmlich aus dem Mund, mein Verbündeter.  Hach, damals als Bauer war das Leben noch erste Sahne. Ich muss unbedingt hier
raus!

Siegfried: Ihr habt doch schon zwei Mal versucht, auszubrechen. Ich sag ja immer: Wer
im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Günther: Ich sag ja auch immer: Aller guten Dinge sind drei. (flüsternd zu Friedrich)
Man soll den Tag zwar nicht vor dem Abend loben, doch dieses Mal schaffen
wir es bestimmt.

Siegfried: Nun denn, ich muss jetzt schuften gehen. Die Zeitung liest sich ja nicht
von allein. (geht ab)

 


Zweite Szene: Dasselbe Verlies


Die Vorigen und kurz darauf Karl-Heinz


Siegfried: Soooo, meine Sportsfreunde von der Heide, alle Augen zugemacht, ihr schlafet jetzt die ganze Nacht!

Günther: Nicht anders, der Herr. (nach kurzem Schweigen aufgeregt und flüsternd  zu)

Friedrich: Der Moment der Wahrheit ist nun gekommen! Ich bin ja wirklich
gespannt wie ein Flitzebogen, ob die Rechnung aufgeht.

Karl-Heinz: (aus der Nachbarzelle) Was kommt mir da zu Ohren? Ihr wollt euch aus dem Staub machen, heut Nacht?

Friedrich: Schreib dir eines hinter die Ohren: Solltest du uns verpfeifen, bist du fällig, Kumpane!

Karl-Heinz: Ganz im Gegenteil, ich gehe euch ab jetzt auf die Palme. Nach so vielen
Jahren ist es Zeit für mich, hier Reißaus zu nehmen.

Günther: Also gut. Soll es uns recht sein. Hoffentlich endet das nicht in einem Saftladen. Ich will ja nicht den Löffel abgeben!

Friedrich: Nun, irgendwie werden wir uns schon durchwurschteln. So Pi mal Daumen solltest du, Günther, den alten Siegfried um 20:01 Uhr eine pfeffern, damit
Karl-Heinz ihm anschließend den Schlüssel für das Tor stibitzen kann. In binnen Sekunden danach schleicht ihr euch zum Tor, wo ihr mich vorfinden werdet.

Karl-Heinz: Du willst, dass wir uns die Finger schmutzig machen, während du selbst dich auf die faule Haut legst?

Friedrich: Und ob! Ich bin schließlich der Schmieder des Masterplans. Übrigens, noch ein Widerspruch und du bekommst einen hinter die Löffel.

Karl-Heinz: Ist ja gut, fahr du mal einen Gang runter. Dann werde ich wohl gleich meinem
Fingerspitzengefühl freien Lauf lassen müssen. (geht mit Günther ab zu

Siegfried; Friedrich entwischt durch ein Loch hinter der Keramikanstalt)

 


Dritte Szene: Am großen Tor des Verlieses


Friedrich


Friedrich: Verdammte Axt, die Wachen am Tor sind ja noch wach. Da werd' ich  denen wohl zeigen müssen, wo der Hammer hängt. (nach dem Erledigen der
Wachen) Das war ja leichte Beute für mich. Ach, da kommen soeben meine
Komplizen. Die wurden wohl auch mit dem Satz: Pünktlichkeit ist das A und
O, erzogen.

 

Vierte Szene: Ein verlassener Wald


Friedrich, Günther, Karl-Heinz


Günther: Puuh... Ich bin völlig außer Puste. Ich bin kurz davor, den letzten Atemzug zu machen. Aber wo sind wir hier eigentlich gelandet? In Absurdistan oder was!?

Friedrich: Sag mal, hast du etwa Tomaten auf den Augen, oder siehst du etwa den Wald vor lauter Bäumen nicht? Das hier ist nämlich ein Wald, du Döskopp.

Karl-Heinz: Schlagt euch jetzt bitte nicht die Köpfe ein! Lasst uns lieber lachen, das  Leben ist ernst genug. Wir sind schließlich frei, wie Vögel.

Günther: Ich kann meinen Augen kaum trauen! Das Land macht sich vom Acker?

Karl-Heinz: Du hast doch Sülze im Kopf. Lass mich auch mal schauen, um  sicherzugehen. Doppelt hält besser, nicht wahr? (schiebt Günther zur Seite und sieht nach vorne) Tatsache! Dort ist ja Wasser! Komm, Günther, lass uns über die Meere
gleiten und frei sein wie Vögel!

Günther: Aber sicher! (indem er ihn greift und mit ihm von der Klippe springt) Man lebt nur einmal, aber das muss man erleben! (sie segnen das Zeitliche)

Friedrich: Nun, das, mein lieber Herr Gesangsverein, sind tragische Beispiele der
Folgen von Entzug der Freiheit eines Homo Sapiens. In diesem Sinne: Lebe nach deinen Werten, nur dann bist du frei! (verlässt die Szene)

ich will frei von dir sein, aber du durchdringst alle meine lebensbereiche.

wenn ich über dich schreibe, schreibe ich im irrealis. wunschvorstellungen.

ich denke an das kleine muttermal neben deinem auge. war es das rechte oder linke. ich weiß es nicht mehr. ich weiß nur, dass ich mit den fingerkuppen drüberstreichen wollte. ich wollte, dass du bei der berührung gänsehaut bekommst.

wenn ich über dich schreibe, schreibe ich im irrrealis. wunschvorstellungen.

wie es sich wohl anfühlen würde, durch deine haare zu streichen und leicht an den strähne zu ziehen, weil du mich so aus der fassung bringst, dass ich halt brauche, wenn du mich küsst.

wenn ich über dich schreibe, schreibe ich im irrealis. wunschvorstellungen.

letztens habe ich von dir geträumt. du warst kunde in dem café, in dem ich arbeite. du hattest den mantel an, den ich so schön fand. als ich dich bedienen wollte hat die kasse nicht mehr funktioniert, beim kuchen machen hat meine hand so schlimm gezittert und beim milchaufschäumen habe ich immer wieder die milch verbrannt. irgendwann bin ich in die küche gerannt und jemand anderes hat dich weiterbedient.

du durchdringst alle meine lebensbereiche. wenn ich über dich schreibe, schreibe ich im irrealis.
wunschvorstellungen.

wie es wohl klingen würde, wenn du meinen namen sagen würdest. ich habe dich noch nie meinen namen sagen hören. wenn du gehst, drehst du dich nicht nochmal um. wieso drehst du dich nicht um.

wenn ich über dich schreibe, schreibe ich im irrealis. wunschvorstellungen.

ich will aber nicht mehr über dich schreiben. ich werde nicht mehr über dich schreiben. ich lüge.

-ich wollte dich im dezember lassen, aber habe dich in den januar mitgenommen. es ist februar.

Es ist der 18. Januar 2001. Für Tom ein ganz normaler Tag, der wie jeder Andere  beginnt. Nicht wie andere Kinder wird er liebevoll von seinen Eltern geweckt, sondern durch die Schreie seiner Eltern, die so laut sind, dass man sie vermutlich noch drei Häuser weiter hören kann. Während die Schreie seiner Mutter pure Angst und Schmerz verkörpern, sind die Schreie seines Vaters von innerer Wut und Aggressionen geprägt. Meistens fangen die Konflikte damit an, dass Toms Vater seine Mutter für irgendwelche Kleinigkeiten verantwortlich macht. Nicht selten enden diese Konflikte mit körperlicher Gewalt. Er hat einmal gehört, wie sein Vater ausgerastet ist, weil seine Mutter den Müll nicht rausgebracht hat. Daraufhin hat er sie so doll auf den Boden geschlagen, bis sie dort lag und sich nicht mehr bewegen konnte, um dann schließlich stundenlang auf sie einzutreten. In Situationen wie diesen schließt sich Tom in seinem Zimmer ein und hält sich die Ohren zu in der Hoffnung, die Schreie seiner Mutter nicht ertragen zu müssen. Trotz alledem, dass  Tom sich irgendwann an das alles gewöhnt hat, wünscht er sich nichts mehr, als mit seiner Mutter abzuhauen, um von seinem Vater wegzukommen. Auch an diesem Morgen war dies sein einziger Wunsch. Was Tom zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass in genau zwei Wochen alles vorbei sein würde. Allerdings nicht ganz, wie er sich das vorstellte.

Es ist der 01. Februar 2013. Tom sitzt in seiner Einzimmerwohnung, welche sich in einem riesigen Wohnblock in Berlin befindet. Er schaut aus dem 23. Stock aus seinem Küchenfenster in die Ferne und lässt seine Gedanken schweifen, so wie er es jeden Tag macht. Nur, dass dieser Tag kein gewöhnlicher Tag ist, denn genau vor 13 Jahren verstarb seine Mutter, nachdem sein Vater sie in einem ihrer unzähligen Konflikte gewürgt hatte, bis sie schließlich keine Luft mehr bekam und starb. Tom war damals nicht zu Hause, als es passierte. Er war in der Schule und als er nach Hause kam, war das Haus von Polizisten umzingelt. Für Tom war dies einer der schlimmsten Tage in seinem Leben. Sein  Vater nahm ihm die Person, die er am meisten liebte. Seine Mutter war eine  unfassbar liebe Frau, die immer versuchte, in allem und jedem das Positive zu  sehen. Immer wieder schaffte sie es, trotz all den Umständen, Tom ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Nachdem er an diesem Tag erfahren hatte, dass er seine Mutter nie wieder sehen würde, brach seine Welt zusammen. Nun war er alleine. Sein Vater wurde aufgrund von Totschlag zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte keine Verwandten, keine Freunde oder sonst irgendwelche Bezugspersonen. Aus
diesem Grund kam er in diverse Pflegefamilien, bis er endlich alt genug war, um seine Sachen zu packen und auszuziehen. Und jetzt sitzt er hier in Berlin, in seiner Wohnung, alleine. Aber einsam ist Tom trotzdem nicht, denn seine Mutter ist immer da. Er hört ihre Stimme, egal wann und wo, sie spricht mit ihm. Es sind verschiedene Dinge, die sie ihm sagt, aber einen Satz wiederholt sie jeden Tag: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei.“ Tom weiß, dass dieser Satz auf seinen Vater bezogen ist, der sich vor knapp drei Jahren im Gefängnis das Leben nahm. Physisch war er nicht mehr anwesend, aber die Narben, die er hinterließ, blieben. In seinem Inneren war sein Vater noch lange nicht tot und als er vor kurzem einkaufen war und einem Mann begegnete, der seinem Vater unfassbar ähnlich sah, beschloss er auf die Stimme seiner Mutter zu hören.

Tom stand auf und entfernte sich von seinem Fenster. Nun setzte er sich an seinen Esstisch und klappte seinen Laptop auf, um die Dating-Plattform aufzurufen, bei der er sich vor Kurzem ein Profil erstellte. Nicht etwa, weil Tom Interesse daran hatte Frauen kennenzulernen. Tom war auf der Suche nach Männern. Genauer gesagt nach Männern, die seinem toten Vater ähnlich sehen. Aus diesem Grund erstellte er ein Profil, bei dem er sich als eine 33-Jährige Frau ausgab. Schnell wurde er fündig. Er hatte ein Match mit einem 37-Jährigen Mann namens Oliver. Oliver lebte ebenfalls in Berlin, weshalb er sich perfekt als Opfer eignete. Die Ähnlichkeit zu seinem Vater war verblüffend. Er hatte kurze braune Haare, ein markantes Gesicht mit einer auffälligen großen Nase. Wie sein Vater, war er eher schmal gebaut. Das Einzige, worin sich die beiden unterschieden, war die Körpergröße, denn Toms Vater war ein relativ großer Mann, während Oliver mit einer Körpergröße von 1,73 m verhältnismäßig klein war. Allerdings störte Tom dies nicht weiter, weshalb er Oliver trotzdem eine kurze Nachricht schrieb. Schnell entwickelte sich ein Gespräch und Tom war froh, dass Oliver so gesprächig war, denn dadurch hatte er es einfacher, viele Informationen über ihn zu erhalten. So erfuhr er zum Beispiel, dass Oliver keine Kinder hat und er  zu seinen Eltern kaum noch Kontakt hatte. Diese Faktoren waren sehr wichtig, denn so würde es lange dauern, bis jemand Oliver bei der Polizei als vermisst melden würde. Toms Ziel war es, ein Treffen mit Oliver auszumachen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Allerdings wollte er nichts überstürzen und so entschloss er sich damit noch ein paar Tage zu warten. Tom hatte einen genauen Plan von seinem Vorhaben. Er hatte alles bis auf das kleinste Detail geplant und war sich seiner Sache bewusst. Auch wenn das Treffen mit Oliver noch nicht vereinbart war, wusste er, dass es funktionieren würde.

Drei Tage sind nun vergangen und schließlich vereinbarten die beiden ein gemeinsames Treffen. Glücklicherweise ließ Oliver sich dazu überreden, zu Tom nach Hause zu fahren, um ihn dort abzuholen, damit sie anschließend ins Kino gehen könnten. Natürlich werde es dazu nie kommen. Auch seine richtige Adresse gab Tom logischerweise nicht an. Er hatte zuvor schon die passende Adresse herausgesucht, wo er Oliver hinlocken würde. In genau sieben Tagen wird es so weit sein. In genau sieben Tagen wird Tom sich das nehmen, was ihm seit langer Zeit zusteht. Sein Vater nahm ihm nicht nur seine Mutter. Er nahm ihm seine Kindheit. Tom konnte nie frei sein, wie alle anderen Kinder in der Schule. Sein Vater sorgte dafür, dass er sein Zimmer nicht verlassen konnte, ohne panische Angst zu bekommen. Er konnte nicht mit anderen Kindern spielen, wann er wollte und erst recht konnte er keine Freunde mit nach Hause bringen. Aber irgendwann hatte Tom sowieso keine Freunde mehr, weil er sein Zimmer nicht mehr verließ. Viel hatte sich daran nicht geändert, denn seine Wohnung verlässt er bis heute kaum. Aber das würde sich ändern, nämlich in genau sieben Tagen, wenn Tom
sich seine Freiheit zurückholen würde.

Es ist der 11. Februar 2013. Sieben Tage, nachdem Tom das Treffen mit Oliver vereinbart hatte, sind nun vergangen. Es ist jetzt kurz nach vier und Tom hat noch genau drei Stunden, bis Oliver ihn von „zu Hause“ abholen wird. Zum Glück war es Winter, weshalb es gegen fünf Uhr schon stockdunkel war. Die Adresse, die er Oliver gab, war ein riesiger Wohnblock, welcher ziemlich abgelegen von der Stadt war. Er würde dorthin mit dem Auto  ungefähr 30 Minuten brauchen. Er entschloss sich dazu, eine Stunde vor dem Zeitpunkt des Treffens loszufahren, damit er genug Zeit haben würde, sein Vorhaben, wie geplant, durchzuführen. Demnach hatte er jetzt noch genau zwei Stunden, bis er losfahren müsse. In dieser Zeit belud er sein Auto mit diversen Dingen. Darunter befanden sich verschieden lange Seile, ein scharfes Messer, unterschiedliche Skalpelle und viele weitere Dinge, die Tom für sein Vorhaben benötigen wird. Jetzt war es noch genau eine Stunde bis zu dem Treffen. Tom
setzte sich in sein Auto und fuhr zu der Adresse. Während der Fahrt war er ganz aufgeregt. Wie wird er sich danach fühlen? Wie wird sein Leben nach dieser Tat aussehen? Er hörte seine Mutter, wie sie ihm sagte: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei.“

Tom kam an der Adresse an. Er stellte seinen Pkw auf einen dunklen, abgelegenen Parkplatz. Nun suchte er sich ein Versteck in der Nähe des Eingangs des Wohnblocks. Wenn Oliver an der Adresse ankommen würde, würde er zu dem Eingang gehen und nach der Klingel mit dem Nachnamen suchen, den Tom ihm sagte. Natürlich existierte dieser Name nicht und so würde Oliver verwundert die einzelnen Namen auf den Klingeln durchgehen. Während dieser Zeit wird Tom sich von hinten anschleichen und ihn mithilfe von Chloroform in den bewusstlosen Zustand bringen. Sein Plan ging auf. Olivers kurzer panischer Schrei hielt nicht lange an, denn nach ein paar Sekunden hielt Tom den bewusstlosen Körper in seinen  Armen. Nun musste er sich beeilen, um von niemandem gesehen zu werden. So trug er den Körper zu seinem Auto und hieb ihn in den Kofferraum. Zusätzlich fesselte Tom ihn mit einem Seil an den Händen und den Beinen. Er stieg in das Auto und fuhr los. Die abgelegene alte Lagerhalle war zum Glück nicht weit von dem Wohnblock entfernt. Er brauchte ungefähr 20 Minuten, bis er dort ankam. Aus dem Kofferraum hörte er langsam, wie Oliver wieder zu Bewusstsein kam, weshalb er sich mit dem Transport in die Lagerhalle beeilen musste. Aber auch dies verlief nach Plan und nun lag er vor ihm auf dem Boden und Tom stand daneben. Genauso, wie sein Vater immer daneben stand, wenn seine Mutter verzweifelt auf dem Boden lag und er es genoss. Tom wartete noch ein paar Minuten, bis Oliver wirklich bei Bewusstsein war. Er wollte, dass Oliver alles spürte und mitbekam, was Tom ihm zufügen würde. Es dauerte noch ein paar Minuten und schließlich war er bei vollem Bewusstsein. Oliver fing direkt an zu schreien, nachdem er realisiert hatte, dass er sich in einer Lagerhalle befand und ein fremder Mann neben ihm stand. Doch er hörte auf zu schreien, nachdem Tom ein großes, scharfes Messer hinter seinem Rücken hervorzog. Nun war nur noch pure Angst in Olivers Gesicht zu sehen und Tom genoss es, denn die Angst, die er immer als Kind spürte und die ihm sein Leben ruinierte, übertrug er nun auf eine andere Person und er stellte sich
vor, dass nicht Oliver vor ihm lag, sondern sein Vater. Nun würde er ihm die Freiheit nehmen, aber dafür würde er sie bekommen. Tom begann mit seinem Plan und anfangs fing Oliver wieder an zu schreien, aber nach kurzer Zeit begriff er, dass es keinen Ausweg gibt und egal wie laut er schreien würde, es würde nichts bringen. Tom schnitt mit den verschiedenen Skalpellen Muster in seine Haut, hauptsächlich, um Oliver Schmerzen zuzufügen. Nachdem er ein paarmal das Bewusstsein  aufgrund der Schmerzen verlor, beschloss Tom, dass es nun so weit war. Er nahm das Messer, setzte es an seiner Kehle an und schnitt hindurch. Blut strömte heraus und das Leben von Oliver war beendet. Tom fühlte sich befreit. Er nahm sich, was ihm gehörte und er hörte die Stimme seiner Mutter, wie sie ihn lobte. Noch nie im Leben war Tom so glücklich. Noch nie hatte er das Gefühl frei zu sein, aber jetzt endlich spürte er es und es war wunderschön. Tom ließ die Leiche in der Lagerhalle liegen. Man wird sie irgendwann finden, aber niemals wird eine Spur zu ihm führen.

Es ist der 15. Februar 2013. Vor vier Tagen nahm Tom Oliver das Leben. Nun steht Tom erneut vor seinem Küchenfenster und schaut in die Ferne. Die Freiheit, die er vor vier Tagen noch so extrem spürte, wurde von Tag zu Tag weniger und jetzt hört er die Stimme seiner Mutter wieder, die ihm sagt: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei."

                                    Kurzgeschichte zum Thema „frei“

 

Die Hochhäuser schmolzen hinter ihm, wie Träume, die er nie zu deuten vermocht hatte, während sich die Landschaft im grünen Nirgendwo verlor. Diese Stadt, die für ihn und seine Familie ein Zuhause war, schien nun mehr wie ein Fremder, stillstehend in der Ferne und übertönt durch das laute Brummen des Wagens. Wie einen Taugenichts zog es ihn und sein treues Ross, ein kleiner Toyota mit großväterlichem Rost an der Stoßstange, in das verschwimmende Dunkelgrün der freien Natur. War es doch gerade diese, nach der der junge Student sich sehnte. Während er weiter und weiter fuhr, dachte er an sein Leben in der Stadt zurück, sein Wabern in sinnloser Materie, alleine und grundlos. Sein Streben nach Fleiß und Wohlstand schien ihm sein Ziel, seine Bestimmung im Leben geraubt zu haben. Entrissen hatte es ihm die romantische, jugendliche Freiheit, die seine Freunde in feierlichem Treiben manifestiert sahen, doch wollte er nicht daran denken und richtete seine Augen in Richtung der endlosen, wenn auch befremdlichen Straße. Ohne Ziel, aber mit dem Willen eines zu finden.

Nach einer langen Zeit, deren Spanne und Charakter er niemals zu deuten vermochte, verließ er den grauen Pfad und fuhr tief in den Wald, belästigt durch die pralle Sonne und ihre ewige Hitze. Nun wurde es ruhig um ihn:

Das erste Mal seit einer langen Zeit entrann ihm ein kindliches Lächeln, geboren durch die innere Neugier nach dem Unbekannten, etwas Menschliches, dass ihm nun unerträglich schien. Der Junge verließ sein Auto, nahm sich eine weiße Wolldecke von der vollgepackten Rücksitzbank und trat, nachdem er seinem treuen, alten Freund einen warmen Blick zugeworfen hatte, in die grünen Gräser, die sich um die majestätischen Eichen tummelten. Die Luft um ihn herum schien anders, losgelöster von den dunklen Smoggestalten, die diese im städtischen Trubel umringten. Nach drei vollen Atemzügen schlenderte er weiter durch die grüne Idylle, begleitet von dem Schein der Mittagssonne, die nun, statt erbarmungsloser Hitze, güldenes Licht über die Wälder legte. Noch lange wanderte er durch die Sträucher, angetrieben von dem Gedanken in der absoluten, unberührten Freiheit seinen Sinn zu finden. Doch war es nun schon Nachmittag und in ihm stieg das große Bedürfnis nach einer Mahlzeit. Drum drehte er sich um und wollte zurück zu seinem Wagen laufen, jedoch konnte er diesen nicht sehen. Auch war er aus freudiger Lust mal hier mal dorthin gelaufen, so war ein gerader Rückweg, wie auf der glatten Landstraße, unmöglich für ihn. Plötzlich machte sich Panik in seinem Herzen breit: Würde er den Weg zurückfinden? Müsse er nun verhungern? Vielleicht wäre dies sogar besser als im Lärm des Großstadttrubels das Zeitliche zu segnen.

Entrüstet von seinen eigenen Hirngespinsten schüttelte der junge Mann mit aufgerissenen Augen hektisch den Kopf und blickte sich konzentriert um. Da erblickte er zu seinem Entzücken Fußabdrücke im munter grünen Gras und begann diesen, trotz seines nun grummelnden Magens, zu folgen. Kindlich stolzierte er durch das schattige Reich des Waldes, zwischen hohen Eichen und durch so manche kleineren Büsche, immer den Fußspuren nach, die er nur wenige Stunden zuvor gelegt hatte. Es brach schon der Abend an, als er endlich etwas pechschwarzes zwischen den Bäumen aufblitzen sah. Müde und hungrig hechte der Junge zu seinem geduldig wartenden Begleiter, schloss den Kofferraum auf und bediente sich an den reichlichen Vorräten, die er eingepackt hatte. Als er wenige Minuten später erleichtert am Auto lehnte, kam ihm wieder die Angst in den Sinn, die er empfunden hatte, als er alleine und orientierungslos im Wald stand. Dass er überhaupt über einen Tod an diesem Ort nachgedacht hatte, erzeugte große Wut in ihm:

Er war doch erst seit einem halben Tag hier und hatte schon so große Furcht? So würde er niemals frei sein. Niemals den Weg finden, den er um jeden Preis betreten wollte. Schämen sollte er sich, wie ein verschrecktes Tier fast die Flucht ergriffen zu haben.

Während die Wut und Vorwürfe wie eine Welle auf ihn niederkrachten, bemerkte der Wütende nicht den Niedergang der Sonne und ihr güldenes Farbenspiel, dass den Wald ein letztes Mal in einen edlen Glanz tauchte, bevor die Nacht diesen gänzlich verschlang. So schreckte er erst aus seinen Gedanken auf, als jener von völliger Dunkelheit ummantelt war. Ein eisiger, für den Hochsommer untypischer Luftzug pfiff durch den Wald und ließ ihn erzittern, weshalb er sich in das Innere seines Wagens begab und mit seiner weißen Wolldecke umgeworfen auf der Rückbank kauerte.

Mitten in der Nacht jedoch, weckte ihn eine sanfte Stimme: „Was tust du, Einsamer? Was fühlst du, Einsamer?“ Verwirrt schreckte er aus seinem traumlosen Schlaf auf und blickte sich angsterfüllt um. „Hab keine Angst, Einsamer. Trete hinaus zu mir“, hörte er die Stimme nun sagen. Vorsichtig öffnete er die Wagentür und lief ein paar Schritte in Richtung des Dickichts, von dem die Stimme zu kommen schien. „Schau nach oben, Einsamer. Hier bin ich.“, sagte die Stimme nun. Als er der Junge seinen Blick also nun gen Baumwipfel richtete, sah er auf einem Ast über ihm zwei gelb-leuchtende, gespenstische Augen, die ihn anfunkelten. Sie gehörten zu einer Eule, weiß wie Schnee und von beachtlicher Größe. So groß, dass der eben Erwachte ehrfürchtig sich mehrere Schritte zurückbewegte.

„Ich bin die Wächterin der Grenzen. Die Hüterin von Tag und Nacht. Eine weise Parabel vom Mondlicht erdacht. Was bringt dich hierher? Was hoffst du zu sehen?“

„Ich suche den Weg und die Freiheit. Einen Sinn könnte man sagen“, antwortete der Einsame zögerlich.

„Der Weg ist knorrig und die Freiheit befleckt. Allein deine Worte sind paradox. Orientierungslos.“

„Und doch bin ich hier. Auf der Suche.“

„Doch finden wirst du nichts. Nicht, solange du dein Herz und deinen Verstand der Natur verschließt. Deine Selbstzweifel fesseln dich an deine bleischweren Sorgen, ziehen dich in einen Abgrund der Menschlichkeit, einen Strudel der Absurdität.“

„Dann sag mir, Eule, wie kann ich mich davon lösen?“, klagte der junge Mann, während ihn eine kühle, nächtliche Brise erfasste. Doch die Eule blickte nur stumm in die Ferne, in den dunklen, nun mehr gespenstisch als einladend scheinenden Wald und breitete mit einer plötzlichen und doch grazilen Bewegung ihre weißen Schwingen aus, um schließlich, ehe er es sich versah, in der Dunkelheit wie eine Farbtropfen auf einer Leinwand zu verschwimmen.

Als er am nächsten Tag erwachte, schien ihm die Begegnung mehr als surreal. Er wiederholte die Worte des weisen Tieres in seinem Verstand, doch war es die Deutung, die ihm fernblieb. Nach einem ausgiebigen Frühstück, fasste er schließlich den Beschluss weiterzuziehen. Mit neugeschöpftem Mut folgte er dem mit tausenden Wurzeln übersäten Waldweg bis in das Herz des Waldes, das selbst die Sonne nur geringfügig erreichte. Dort war es still. Das kämpferische Poltern seines Autos mit den Wurzeln war das einzige Geräusch, das durch die leeren grünen Hallen tönte. Und doch fühlte er keine Reue und keine Furcht in ihm, denn ein ihm unbekannter Wille, plötzlich entsprungen aus den Tiefen seiner Selbst, vielleicht mit Heldenmut gleichzusetzen, trieb in voran. So war es jener Wille, jenes dumpfe Gefühl der Entschlossenheit, was ihn plötzlich auf die Bremse treten ließ und den Wagen abrupt zum Stehen brachte.

Der Junge war sich sicher: Hier würde er die Freiheit und den Weg finden. Er wusste es einfach. Die Umgebung schien in ihrem intensiven, ja beinahe penetranten grün so außerweltlich, dass sich kurz die Angst selbst um seine Schultern legte. Nichtsdestotrotz nahm er ein wenig Proviant und setzte seinen Weg zu Fuß fort.

Nach vielen Stunden des Wanderns erblickte der Suchende etwas äußerst Ungewöhnliches: So windete sich ein großes Gebilde, einem Turm ähnelnd, vor ihm aus dem Boden des Waldes bis über die Baumwipfel mit steinernen Stufen, die dicht von Moos bewachsen waren. Vorsichtig bestieg er das Gebilde, Stufe für Stufe, bis er schließlich müde und schweißgetränkt auf der Spitze ankam. Aber er war nicht alleine dort oben:

Der Weg war ein alter Mann mit gebräunten, knöchernen Gliedmaßen und langem, zerzaustem Haar, an welches sich ein langer, grauer Bart anschloss, der ihm bis zu seinen nackten Füßen reichte. Als Kleidung trug er nicht mehr als ein langes, bräunliches Gewand mit vielen Flecken, vermutlich entstanden durch den Erdboden, welches ihm bis zu den rötlichen Unterschenkeln reichte. Sein langes Gesicht war genauso abgemagert wie der Rest seines Körpers und seine Lippen waren schmal und matt. Der Weg stand nur wenige Meter vor dem jungen Mann und blickte in dessen Richtung, doch bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass seine stechenden, himmelblauen Augen etwas hinter ihm betrachteten.

„Wunderschön, wirklich wunderschön sind sie.“, murmelte der Weg mit einem dezenten Lächeln. Da erst blickte der Junge in die Richtung und sah am fernen, dämmernden Horizont die Lichter einer Stadt, seiner Stadt. Die Stadt, die ihn mit ihren Hochhäusern und verregneten Gassen aufwachsen lies und doch durch ihre Menschenmassen erdrückte.

„Was soll so wunderschön an ihr sein? Sie ist bedrückend, kantig und verschmutzt. Lärm kommt aus allen Ecken. Nichts davon ist schön.“, antwortete das Kind jener Stadt unversöhnlich.

„Nein Junge, nicht die Stadt. Die Menschen sind wunderschön, ihre Herzen sind wunderschön.“, sprach der Weg nun, doch der Junge blieb bitter:

„Die Menschen sind egoistisch. Sie denken nur an sich und schränken sich gegenseitig ein. Sie neiden und prahlen. Sie betrügen und lügen.“

Doch der Weg sprach weiter mit ruhiger, träumerischer Stimme:

„Und doch schaust du nicht hin, Junge. Blicke genauer!“

Obwohl die Worte des alten Weges ihn verwirrten, blickte er erneut auf die Stadt, nur eine dunkle Silhouette in der Ferne wie ein einsames Schiff auf dem grünen Ozean. Und dann sah er sie: Die vielen kleinen Lichter, Millionen von ihnen, die die Stadt aufleuchten ließen, wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Wimmernd fiel der Einsame auf die Knie und verbarg seine Tränen mit seinen Händen. Ein unvorstellbares Heimweh durchzog ihn, wie die Reue, die er nun für seine Blindheit empfand.

„Du hattest immer ein Ziel und einen Weg, Junge. Es waren deine eigenen Selbstzweifel, die Eisentür, die du vor dein Herz gesetzt hattest, die dich unfrei machte. Diese Lichter, sie sind die Herzen, die ewigen Laternen, die ein Menschenkind durchs Leben führen“, erklärte der Weg mit einem warmen Unterton in seiner Stimme. „Du warst nie einsam, niemand ist wirklich einsam. Einsamkeit entsteht dort, wo der Zweifel auf das Selbst trifft, wo sich der Mensch den Wert nimmt.

Der junge Mann dachte an die Eule. Sie hatte von Ähnlichem gesprochen, nur hatte ihm seine Unzufriedenheit damals die Deutung verwehrt. Nun aber verstand er. Langsam richtete er sich auf, trocknete seine Tränen und wollte sich gerade beim Weg bedanken, aber als er sich umdrehte war dieser verschwunden.

Mit neu erwecktem, kindlichem Elan und einem herzlichen Lachen tobte er durch den Wald, sprang geschickt über die Wurzeln am Boden und fand nach überraschend kurzer Zeit sein Auto wieder. Dankbar begab er sich hinters Steuer und trat den Rückweg an. Staunend betrachtete er die tausenden Sterne, die ihm den Weg nach Hause wiesen und blickte ein letztes Mal voller Dankbarkeit auf den Wald mit all seinen Wundern, bevor er die graue Straße betrat, die in vor wenigen Tagen hierher geleitet hatte.

Diese Stadt, die für ihn und seine Familie, sowie für viele Menschen ein Zuhause darstellte, schien nun mehr wie ein Freund, ein alter Bekannter, den er lange nicht gesehen hatte. Er war frei, nein, er war immer frei gewesen.

 

Frei sein mit dir
So viel mit dir zu teilen hat mich realisieren lassen,
dass ich niemals Angst davor haben sollte, ich selbst zu sein.
Du hast mir gezeigt, dass ich nur frei sein kann, wenn ich ich selbst bin.
Frei sein, Ich sein, macht mir immer noch Angst.
Die Welt hat mir gezeigt, dass ich mich verstecken muss, damit andere mich mögen.
Du hast mir gezeigt, dass es egal ist, ob andere mich mögen.
Ich hatte Angst zu viel zu lieben, zu viel zu sein.
Die Welt hat mir gezeigt, dass ich nicht zu viel lieben soll.
Du hast mir gezeigt, dass ich niemals zu viel lieben kann.
Ich war in meinen eigenen Gedanken und Ängsten gefangen,
die Welt hat mich eingesperrt,
Du hast mich befreit.
Ich war nicht ich selbst, ich war nicht frei,
die Welt hat mich eingesperrt -
Du hast mich fliegen lassen.
Frei sein, das Gefühl am Rande des Horizonts macht mir immer noch Angst -
aber mit dir renne ich, bis es keinen Horizont mehr gibt.
Die Welt hat mich festgehalten -
Du hast mich losgelassen .
So viel mit dir zu teilen hat mich realisieren lassen,
dass das das wahre Freisein ist.
Ich bin ich.
Ich bin frei.
Du bist immer an meiner Seite -
Wir sind frei.
Unzertrennlich und irgendwie unsterblich.

“Du kannst alles sagen, was du willst, Lu. Das ist dein Recht. Sag, was auch immer du willst.”

Diese Worte dröhnen noch immer in meinem Kopf. Immer, und immer wieder. Damals habe ich ihm noch geglaubt. Diesem Mann, den man meinen Vater nennt. Heute ist das anders. Es kommt mir vor, wie als wäre das bloß ein Traum gewesen. Ein guter. Kein Albtraum. Und doch ist das weg. Dieses Recht? Alles ist anders. Ein falsches Wort, und ....

Nicht daran denken, Lu. Mom geht es bestimmt gut. Sie lebt, Lu, sie lebt.

Ich möchte Mom einfach vergessen, ihr Schicksal, alles, wie als wäre es bloß ein Traum gewesen, und die Meinungsfreiheit dagegen Realität. Aber ... ich  schaffe es nicht. Immer wieder, und öfter, folgt auf Dad ́s “Du-kannst-alles-sagen,was-auch-immer-du-willst"-Traumrede nun auch eine Stimme, die an Mom ́s Schicksal erinnert.

Ja, der Kaiser meint es gut. Er möchte bloß für uns, das Volk, sorgen. Aber was hat Mom ihm bloß getan? War sie so eine schlechte Frau?

Ob sie eine gute Mutter war, kann ich nicht entscheiden. Sie wurde festgenommen,  da war ich erst knappe fünf Jahre alt. Ich habe nur ein Bild von ihr. Es zeigt meinen  Dad und sie, Arm in Arm, kurz nachdem sie sich kennengelernt haben. Sie, 24, und Dad 25. Nun wäre Mom schon 47, und ist schon seit neun Jahren an einem geheimen Ort. Eine Gefängniszelle, grausam, kühl, und dreckig? Oder ist sie doch schon verstreut im Meer?

Nicht daran denken, Lu! Lalalala, die Gedanken sind frei. Lalalala, alles ist gut. Ich bin so glücklich, Mom ist bestimmt schon wieder frei. Lalalala.....

Aber ich schaffe es nicht, Mom zu vergessen. Und damit auch unsere verlorene Freiheit.

 

Geknickt lasse ich mich im Sessel nieder. Ich mache den Fernseher an, um mich etwas abzulenken, und auf andere Gedanken zu kommen. Da klingelt es plötzlich an der Tür. Ich höre nur noch ein paar Worte aus der Nachrichtensendung, als ich auch schon zum Flur eile. “(...) Menschenmenge stürmt vor Wut den Palast. Der Kaiser erhängt, die politischen Gefangenen entlassen. Die Menschen sind erfreut über die neugewonnene Freiheit.”

“Mom! Mom, bist du es?” Überrascht blicke ich in ein Gesicht einer mir durch ein gewisses Bild bekannten Frau. Doch fehl am Platz auf ihrem wunderschönen  Gesicht wirken die Blutergüsse, Kratzer, und Narben. All diese Ausdrücke von Schmerz werden von verwahrlosten, zerzausten Haaren umgeben.

“Luana?” Sie strahlt mir entgegen und nimmt mich in den Arm. “Oh, Luana!” Eine kleine Träne läuft an ihrer Wange herunter.

“Wir sind frei, Mom”, flüstere ich ihr, ebenfalls mit Tränen in den Augen, ins Ohr.

Endlich. Wir sind frei

Eleutheria

In einer Welt
So modern und so zerbrechlich,
Da lebte ein kleiner Frosch.
Er war noch jungen Alters,
Steckte voller Energie
Und Faszination für die Welt, die ihn hervorgebracht.

Die Zeit verging und unser kleiner Frosch,
Genannt Eleutheria,
Wuchs heran,
Behütet und beschützt von seinem Umfeld,
Abgeschirmt von der Welt.

Es kam der Tag,
Da Eleutheria mehr von jener sehen wollte.

Und so hüpfte er zu seinen Eltern
- Ich möchte wissen, was hinter dem Teich liegt.
Sagte er
Und sie antworteten
- Bloß lauter Gefahren und eine Welt, ohne die du besser dran bist.

Diese Antwort musste verdaut werden.
Nach einer langen Nacht
Sehen die Dinge zumeist anders aus.
Man blickt auf sie mit anderen Augen,
Hatte Zeit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Doch an Schlaf war nicht zu denken.
Zu laut waren die Stimmen in Eleutherias Kopf.
Sie stritten,
Waren hin- und hergerissen
Und machten sich gegenseitig Vorwürfe.
Kurz vor dem Aufgeben,
Da erklang eine neue Stimme,
Ganz leise
- Wie können wir dem vertrauen, das wir nur gehört,
- Nicht jedoch gesehen?
- Können wir Gegebenes als Wahrheit akzeptieren,
- Ohne das Geringste über die Tatsachen zu wissen?

Da entstand ein Entschluss
Und Eleutheria,
Von neuer Energie erfüllt,
Sprang auf.

Packte das Nötigste zusammen,
Schrieb einen Zettel
- Auf der Suche nach Wahrheit verlasse ich Euch.
- Wer weiß, was mir unterwegs begegnet,
- Möglicherweise kehre ich als anderer zurück,
- Möglicherweise merke ich, dass Ihr Wahrheit spracht.
- Euch ewig liebend,
- Eleutheria.
Und verschwand in die Schatten der Nacht.

Es folgten Tage und Nächte
In denen Eleutheria völlig Neues entdecken,
Mit zahlreichen anderen Tieren sprechen
Und einer Wahrheit kein Stück näherkommen sollte.

Nach bitterer Enttäuschung jedoch,
Im Moment größter Hoffnungslosigkeit,
Begegnete ihm eine weise Eidechse,
Fragte nach einer Geschichte hinter dem kleinen Frosch.

- Von zu Hause weggelaufen also,
- Willst du wohl in den Genuss der Freiheit kommen?

Ein neuer Begriff,
Auch der Eidechse unmöglich, zu erklären.

Fortan, beschloss Eleutheria,
Wollte er danach suchen.
Nach Freiheit.
Und ihrer wahren Bedeutung.

Alles um ihn herum rückte in ein anderes Licht,
In jeder Kleinigkeit schien sich das Wort finden zu lassen
Und dennoch nirgends.

War es Freiheit,
Dass Eleutheria hier sein konnte,
Leben konnte
Und diese Reise machen konnte?
Oder waren dies nur Entscheidungen?

War es Freiheit,
Denken zu können,
Atmen zu können,
Essen zu können,
Trinken zu können,
Leben zu können?
Oder waren dies nur Nebenwirkungen eines Lebens,
Um das nie gebeten wurde?

War es Freiheit,
Unter dem Vorsatz Wahrheit zu sprechen,
Andere zu verletzen?
Oder war dies pure Leichtfertigkeit?

War es Freiheit,
Zu bestimmen, wer man ist,
Was man glaubt,
Wen man liebt?
Oder waren dies nur komplexe Vorgänge im Gehirn?

Vielleicht war all dies Freiheit,
Alles gemeinsam,
Jede Komponente für sich.

Vielleicht war es nichts davon.

Vielleicht müssen wir alle unsere eigene Freiheit finden,
Eine eigene Definition,
Sofern es eine solche gibt.

Vielleicht geht es letztendlich nur darum,
Sich selbst zu finden,
Sich zu akzeptieren.

Wir müssen uns fragen,
Wie wir dieses Leben verbringen wollen,
Dieses eine,
Das wir haben.

Wollen wir ewig leben
Oder sagen können,
Wirklich gelebt zu haben?

All diese Entscheidungen liegen in unserer Hand,
Wir müssen sie nur treffen.

Und vielleicht,
Ja vielleicht
Finden wir auf dem Weg unsere Freiheit.

Ich renne. Weg von allem, in den Wald. Frei sein. Selbst entscheiden, was ich tue. Ich höre Rufe hinter mir. Aber ich gehe nicht darauf ein. Eine Träne bildet sich in meinem Auge, ich wische sie weg. Ich biege ab. Es ist dunkel und mir ist kalt. Ich renne schneller, um mich aufzuwärmen. Ich komme an eine kleine Lichtung mit einer großen Eiche in der Mitte. Das ist mein Ziel. Diese Lichtung kenne nur ich. Ich setze mich an die Eiche und verschnaufe erstmal. Pause. Erschöpft kauere ich mich zusammen. Doch dann durchströmt mich ein Glücksgefühl. Endlich frei! Tun und
lassen, ganz nach meiner Meinung. Ich rappele mich auf und öffne meinen  Rucksack. Ich habe einige Dinge zum überleben mitgenommen: Einen Schlafsack, ein kleines Erste-Hilfe-Set, mein Tastenhandy mit Batterien-Funktion, genügend Batterien die in mein Handy passen, einen Geldbeutel mit mehreren hundert Euro, Proviant (Brote, Gemüse, Obst, Wasser), eine Taschenlampe, eine Armbanduhr, einen kleinen Topf, zwei Becher, einen Spiritus-Kocher, eine Plane, ein Schraubenset mit Schraubenziehern und einige Holzbretter. Ich nehme zuerst  meinen Schlafsack heraus und rolle ihn auf. Ich breite mein zukünftiges Bett aus. Hier werde ich nun schlafen. Meinen Geldbeutel stecke ich zu meinen Füßen in den Schlafsack, damit er einigermaßen sicher ist. Dann lege ich mich in mein Bett. Zuerst kann ich nicht einschlafen. Ich muss über mein neues Leben nachdenken, welches ab jetzt beginnt. Mir wird bewusst, welche Zeiten ich bestehen muss, vor
allem im Winter. Ich schaue auf die Uhr. Es ist fast zehn Uhr Abends. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Ich muss nicht mehr um sechs Uhr aufstehen, um zur Schule zu gehen! Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

Am nächsten Tag wache ich auf. Ich muss aufs Klo. Ich schaue mich um und  bemerke einen Busch, der am Rande der Lichtung steht.

Eine Minute später sitze ich wieder unter der Eiche und packe meinen Rucksack aus. Ich hole die Holzbretter heraus. Einige sind lang, andere kurz. Mit meinen Schrauben und drei kurzen Holzbrettern baue ich mir eine kleine Fläche, die als Tisch dient. Auf den provisorischen Tisch stelle ich den Spiritus-Kocher und den Topf. Alles zusammen steht dann neben meinem Bett. Im Gebüsch hinter mir knackst ein Zweig. Ich erschrecke mich und drehe mich um. Ich stehe auf und
gehe ganz langsam auf die Stelle zu, woher das Geräusch kam. „Ich darf in Zukunft nicht so schreckhaft sein“, denke ich mir. Ich umrunde den Busch und sehe gerade noch so ein Reh, das zurück in die Tiefen des Waldes springt. Ich atme aus und gehe zu meinem kleinen Lager zurück. Ich hole mein Handy raus und spiele ein Spiel. Doch dann bekomme ich Hunger. Ich nehme mir ein Brot und esse es. Ich denke über das Reh nach. Das ist doch auch frei. Dann schaue ich mir die Risiken an, die das Leben im Wald mit sich bringt. Irgendwie beschleicht mich der Gedanke, dass
es doch keine so gute Idee war, weg von all dem Stress zu flüchten. Ich beiße in mein Brot und vertreibe den unangenehmen Gedanken. Doch immer wieder muss ich an meine frühere Familie denken und bekomme schon nach einem Tag in der Wildnis Heimweh. Ich versuche, dieses Gefühl wegzuschieben, zu vergessen. Und es klappt.

Drei Tage später denke ich nicht mehr an die Menschen in der lauten Stadt und konzentriere mich auf mein Leben jetzt. Das Reh, das ich getroffen habe, ist jetzt mein Freund und vertraut mir. Regelmäßig kommt es mich besuchen.

Doch noch zwei Tage vergehen und es wird kälter und kälter. Irgendwann fällt sogar Schnee! In der Nacht ziehe ich mir die Plane über, doch die hilft nur wenig. Ich kuschele mich in meinen Schlafsack und versuche, mich aufzuwärmen. Ich sehe eine Bewegung aus dem Augenwinkel und schaue mich um. Mein Reh kommt auf mich zu und legt sich zu mir. Ich schmiege mich an meinen Freund. Er gibt mir von seiner Körperwärme ab, und schon wird mir wieder warm.

 

An einem Tag höre ich laute Knaller. Ich sehe auch ein paar Funken am Himmel. Muss Silvester sein. Schon  wieder denke ich an die Leute, die Kinder in meiner Schule und an meinen besten Freund. Die tollen Zeiten im Schwimmbad, im Kino... Die Lehrer an meiner Schule... jetzt ist der erste Januar und damit das Jahr 2030. Ich seufze und schaue mich um. Diese Lichtung ist mein Zuhause geworden. Das Reh ein Teil meiner Familie und der Schlafsack Alltag. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, das alles zu verlassen. Doch irgendetwas drängt mich zurück zu meiner Familie und meinen Freunden.  Irgendwie vermisse ich auch die laute und stinkende Müllabfuhr, die immer vor unserem Fenster hält. Das Piepsen war, genauso wie die große Eiche jetzt, mir  vertraut. Noch einmal schaue ich mich um, dann lege ich mich schlafen.

Am nächsten Tag werde ich von Sonnenschein, Kälte und einem sanften Schnauben geweckt. Ich blinzele und schaue meinem Waldfreund in die dunklen Augen. Ich setze mich auf und kraule das Reh hinter den Ohren. Dann krabbele ich aus meinem Schlafsack und nehme mir das letzte Stück Brot. Ich reiße ein Stück davon ab und gebe es meinem Freund. Ich hole meinen Geldbeutel hervor und betrachte ihn. Ich zittere. „Nach Hause“, denke ich unfreiwillig. Mir ist kalt und überall liegt
Schnee. „Ins warme Haus“, kommt mir der Gedanke. Ich reiße mich zusammen und packe meine Sachen ein. Ich rolle den Schlafsack zusammen und hänge ihn an meinen Rucksack. Mein Waldfreund schaut mich fragend und mit schief gelegtem Kopf an. Ich erkläre ihm: „Ich gehe nach Hause. Aber ich werde dich hier immer besuchen, okay?“ Das Reh schnaubt, scheint mit dem Kopf zu nicken und schnuppert noch einmal an meiner Hand. Dann trabt es in den Wald. Ich schaue
meinem Freund hinterher. Ich seufze und packe weiter meine Sachen zusammen. Meinen Tisch, den Spiritus-Kocher, den ich überhaupt nicht benutzt habe... warum hab ich ihn dann mitgenommen? Ich schüttele meinen Kopf und schließe meinen Rucksack. Ich setze ihn mir auf und mache mich auf den Weg zurück in die Stadt.

Eine halbe Stunde später erkenne ich die ersten Häuser. Nochmal zehn Minuten später biege ich in meine Straße ein. Ich bleibe vor meinem Haus stehen und muss mich zusammenreißen, nicht wieder weg zu laufen. Ich drücke die Klingel. Etwa fünfzehn Sekunden später wird die Tür aufgemacht und ich stehe meiner Mutter gegenüber. Diese ist für zwei Sekunden in Schockstarre, dann kreischt sie jedoch vor Freude und ruft: „Du lebst!“ Ich falle ihr in die Arme und drücke sie. Am liebsten
würde ich sie nie mehr loslassen. „Aber wie siehst du aus?“, sagt sie irgendwann zu mir und hält mich von sich, damit sie mich betrachten kann. Erst jetzt bemerke ich, dass sich in meinen Haaren lauter Blätter, Zweige und Erdkrümel verfangen haben. Ich schaue verlegen an mir herunter und sehe, dass auch meine Klamotten nicht mehr ganz sauber sind.

 

Einen Monat später habe ich bereits vierzehn-mal meinen Freund des Waldes besucht. Und eins habe ich auch bei meinen ersten Tagen zuhause gelernt: Zuhause bin ich freier als in der Wildnis. Dort draußen ist man nicht frei, denn man hat mehr Einschränkungen als zuhause. <3