Springe zum Inhalt

Ella Ziegert: Von den gläsernen Mauern der Existenz – 3. Platz

Von den gläsernen Mauern der Existenz 

 

Wie Mauern aus Glas. Wie durch einen Schleier nehme ich die Welt um mich herum wahr. Ich bin nicht lebendig. Doch ich gehöre auch nicht zu den Toten. Mein Herz schlägt gegen meinen Brustkorb; in meinem Körper. In einer Hülle, die nach außen hin versucht, es allen und jedem recht zu machen. Einer leeren Hülle, die gelernt hat, selbst zu handeln.  

 

Blicke ich in den Spiegel, lächelt sie mich an. Höre ich einen Witz, lacht sie. Sehe ich etwas Unglaubliches, staunt sie. Schaltet jemand Musik ein, entspannt sie sich. Doch das bin nicht ich. All die Gefühle erreichen nicht mein Inneres. Sie schwimmen auf einer Oberfläche, die widerspiegelt, was andere in ihr sehen wollen. Einer Oberfläche, die über all die Jahre alles, was sie gesehen hat, aufgesogen hat, um es im richtigen Moment wieder freizulassen. Um sich ihrer Umgebung anzupassen. Und um all den Erwartungen gerecht zu werden, die wie Steine in ihr versinken und sich zu einem großen Klumpen ansammeln.  

Jener Klumpen scheint mein Handeln zu bestimmen; meine Persönlichkeit und mein Aussehen wandelbar wie die Haut eines Chamäleons zu machen.  

 

Wie eine Decke überzieht mich die Angst, nicht akzeptiert zu werden. Wie eine Decke, die jeden Versuch meines Inneren, es selbst zu sein, erstickt. Aber auch wie eine Löschdecke, die das brennende Feuer der Entmutigung verhindert, das, wenn es in einem erst entflammt ist, nicht aufhören will zu brennen. Mein Körper kommt mir vor wie ein Schutzmechanismus. Die Eisschicht, die mein Inneres und all die Emotionen umgibt, soll diese nicht völlig ausschalten, sondern lediglich schützen. Schützen vor der Verbitterung, dem Schmerz, den die Welt für alle, die sich nicht dagegen zu wehren wissen, bereithält. Dem Schmerz, der existiert, wie Freude und Glück existieren. Wie er immer existieren wird, da das eine nicht ohne das andere vorhanden sein kann. Wie die Nacht nicht ohne den Tag, wie Dunkelheit nicht ohne Licht da ist. Kennen wir das eine nicht, können wir das andere nicht missen. Doch haben wir erst beide Seiten kennengelernt, wird es immer eine geben, die wir bevorzugen. Nicht immer können wir wählen. Ist man erst zu weit auf die eine Seite vorgedrungen, kann es nur allzu schwer werden, wieder zurück zu finden. Die meisten von uns pendeln zwischen den Welten der Empfindungen hin und her. Mal sind sie auf der der Freude, mal auf der der Angst, mal auf der der Wut. Merken sie, warum sie dort sind oder warum sie nicht dort sein sollten, dauert es nicht lange, bis sie sie wieder verlassen. Dann sind Hoffnung und Erkenntnis wie ein Licht, das sie leitet. 

 

Doch ich habe aufgehört zu pendeln. Mein Inneres ist auf einer Welt des Kummers, der Einsamkeit, der Angst, des Schattens und des Gefangenseins geblieben. Zu lange verweilte ich dort. Die Hülle meiner selbst ist weitergezogen. Sie wechselt hin und her, zieht mit den anderen mit, tut, als wäre der Zweck ihres Daseins damit erfüllt. Als wäre sie zufrieden damit, immer zu einer neuen Welt zu hetzen. Immer so zu tun, als sei alles in Ordnung; als wüsste sie immer genau, was sie täte; als würde sie nie Fehler machen; als wäre alles perfekt. 

 

Ist es vielleicht das, was wir müssen? Müssen wir immer perfekt sein? Müssen wir immer alles richtig machen und muss immer alles in Ordnung sein? Müssen wir wachsen und blühen und das, obwohl wir doch wie eine Blume sind, der das Wasser entzogen wurde? Der Regen, der uns gedeihen lässt, bringt wie selbstverständlich all die Finsternis und Kälte mit sich. Stellt uns immer vor die Herausforderung, die am schwersten zu überwinden ist, uns aber am meisten wachsen lässt. Die Art von Regen, die in die Haut einzudringen scheint, um dort ihre unsichtbaren Spuren zu hinterlassen. Spuren, die in unserem tiefsten Innern immer ein Zentrum aus all den negativen Gefühlen bilden werden, die wir versuchen täglich auszublenden. Die sich gegenseitig nähren und anzuschwellen drohen, wie das Meer bei Flut. Bei einer Flut, die einzig und allein die Ebbe zu stoppen vermag. Die Ebbe, die all die dunklen Gedanken mit sich trägt und ins offene Meer hinausspült, wo sie schließlich schwer wie Blei zu Boden sinken und dortbleiben, bis man sie neu an Land fischt. 

 

Viel zu oft habe ich meine Angelrute ausgeworfen; habe sie wieder eingeholt. Habe Erinnerungen an längst vergangene Tage hervorgeholt, um nicht zu vergessen. Denn das Vergessen ist es nicht, was ich will. Ich will mich erinnern können, an all die düsteren Zeiten. Lediglich der Schmerz, den diese Erinnerungen mit sich bringen, soll sich nicht mehr wie unlösbare Algen in meinem Fang verheddern. Es mag sein, dass ich verloren habe. Verloren gegen meine innere Stimme, meine Dämonen. Doch ich habe gelernt. Damals wusste ich es noch nicht, doch nun weiß ich, dass alles nur darauf hinausläuft die eigenen Fehler zu erkennen. Um die eigene Schwäche und Verletzlichkeit zu wissen, die uns zwar angreifbar, aber lebendig macht. Ich weiß, dass es darum geht, vom Boden aufzustehen, auch wenn eine unsichtbare Last dich zu Boden zu drücken scheint.  

 

Manchmal ist es sinnvoll, alte Mauern einzureißen, um neue zu bauen; alte Bücher zu schließen, um neue zu beginnen. All die Zeit war ich gefangen. Zwar konnte ich mich bewegen und gehen, wohin ich wollte, doch es war, als wäre ich umgeben von einer Mauer. Einer gläsernen Mauer, durch die ich sehen, aber nicht fühlen konnte. Die alles von mir abtrennte, was ich brauchte. Nicht die überlebensnotwendigen Dinge, nicht die materiellen. Die lebensnotwendigen, die man nicht sehen kann, von denen man aber weiß, dass sie dort sind. Die, die einem ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, einen aufgeregten Schluckauf verursachen, die Finger gespannt kribbeln lassen. Die, die die Zeit stillstehen lassen, sodass der Augenblick, und sei er noch so kurz, nie zu enden scheint. Die, die keinen Weg durch das Glas finden können. 

 

Reiße ich die Mauer ein, kostet dies keine Kraft.  

Es kostet unendliche Überwindung und den Schmerz, den die dahinter lauernde Leere verursacht. Das Wissen, dass dort nichts ist, was auf einen wartet. Nichts bleibt. Hinter jeder Ecke, in jedem Winkel wartet nichts als die unendliche Leere. 

Es ist ein Neuanfang. Man verabschiedet das Alte, um dem Neuen Platz zu machen, löst sich von alten Erinnerungen, um neue Erlebnisse zu solchen zu machen. Alte Wunden werden endgültig verschlossen und werden zu Narben, die nur noch zeigen, wie viel Schmerz man einst erlitten hat. Wie viel man ertragen hat, um zu dem zu werden, was man heute ist.  

 

Ein Mensch, der mit sich selbst im Reinen ist, wird nicht so geboren. Er entscheidet selbst, ob und wann es an der Zeit ist, etwas zu ändern. Manchmal geschehen jene Veränderungen unbewusst, manchmal ist es ein Kampf. Man lässt niemanden etwas spüren von dem Sturm, der in einem tobt. Will nicht als schwach oder ängstlich gelten. Will nicht bemitleidet werden. Es soll bloß jemand da sein, der versteht. Der hinter einem steht und auch bleibt, wenn die Sonne mal hinter Wolken verschwindet; wenn es mal regnet und der Schirm nicht aufgeht. Der dich einfach nur wissen lässt, dass er da ist. Dass du nicht allein bist, auch wenn du deine Mauer schließlich einreißt. Du baust etwas Neues und er steht neben dir, um dir über die Schulter zu schauen und dich zu motivieren; nicht aufzugeben. Weiterzumachen, auch wenn Steine in der Erde schlummern, in die du gräbst. 

 

Auch heute noch bin ich dankbar für diese Zeit, in der mir im Stillen Hoffnung gegeben wurde; in der ich erkannt habe. Sie war das Licht, das mein von ihrer leeren Hülle verlassenes Inneres befreite. Befreite von der Welt, auf der es zurückgelassen wurde, weil seine Last zu groß war. Weil es leichter war, ohne es weiter zu machen; ohne das Gewicht, die Last meines Inneren, das die eine Hälfte der Waage nach unten drückte. Doch fehlte die eine Seite der Waage, gab es gleichzeitig keine Waage mehr, also nichts, was im Gleichgewicht sein könnte. Es herrschte ein stetes Ungleichgewicht, das nichts auszugleichen vermochte.  

 

Nicht umsonst gibt es in Märchen immer Gut und Böse. Nur so kommt es zu einem glücklichen Ende. Der Drache wird von einem Helden besiegt und die Prinzessin wird gerettet. Im wahren Leben ist alles dieselbe Person. Der Drache schlummert tief in einem, bis er alles zu verschlingen und ins Chaos zu stürzen droht. Die Prinzessin steht für das Fünkchen Hoffnung, das noch in uns steckt, das aber vom Drachen gefangen gehalten und tyrannisiert wird. Der Held kommt und befreit die Hoffnung. Natürlich wird hier niemand getötet, wie in all den Geschichten, doch man schließt Frieden mit den inneren Dämonen. Man braucht einen Helden, der alles wieder in Ordnung bringt. Und nachdem man vom König geschubst wurde, dem Jemand, der einem den Glauben an sich selbst verleiht, wird man selbst zu diesem Helden. Man zieht aus und befreit sich aus den Klauen der eigenen Person. Zurück kommt man verändert, doch ist man auch weiser geworden. 

 

Ich weiß nun, dass ich selbst bestimme, was andere von und in mir sehen. Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich ich selbst sein kann. Ich muss nicht allen gefallen, muss es nicht allen recht machen, wird es doch immer Personen geben, die mich nicht so akzeptieren, wie ich bin. Es ist mir möglich, meine Emotionen und Gefühle zu kontrollieren, doch eingesperrt habe ich sie nie wieder. Sie sind ein Teil von mir; sie machen mich aus. Ich habe aufgehört mich aus mir selbst auszusperren. Seither hat sich mein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Ich genieße jeden einzelnen Tag, als könne es mein Letzter sein. Ich finde wieder mehr Zeit für die Personen und Dinge, die ich liebe; mehr Zeit für meine Hobbies. Ich atme freier. Doch ich denke nicht weniger. Ich weiß nun jedoch, wie ich meine Gedanken sanft lenken kann, wie sie nicht mehr völlig frei und durcheinander durch meinen Kopf schwirren. Ich habe keine Angst mehr vor ihnen. Sie sind meine treuen Begleiter geworden, die Zusammenhänge erkennen und mein Leben kommentieren. Ich habe gelernt, nicht mehr in mein dunkles Loch zu fallen. Keinen Teil von mir auf einer der dunklen hoffnungslosen Welten zurückzulassen. Keine Mauern mehr um mich zu bauen.  

 

Wie Mauern aus Glas. Der Schleier ist von meinen Augen gefallen. Nach langer Zeit bin ich wieder durch und durch lebendig. Die Mauer sperrt mich nicht mehr ein. Sie trennt mich lediglich von der Dunkelheit. Ich kann die Schatten sehen und ihnen friedlich zuwinken. Durch meine gläserne Mauer. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert