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Geschichte „Ihr Versprechen“

"Ihr Versprechen"



Morgen werde ich sterben.
So hat es meine Schwester gesagt und so wird es auch sein. Sie hat es mir ins Ohr geflüstert, ohne zu wissen, dass ich sie hören kann.

Meine Schwester und ich hatten viel geredet. Darüber, was wir später machen wollen und was wir mitunserem Leben anfangen. Und auch darüber, was wir machen würden, wenn einer von uns todkrank wäre.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns einig, dass wir einander helfen
würden. Doch dass es wirklich so kommen konnte, hätte niemand von uns gedacht.
Ich mochte meine Schwester sehr. Und auch sonst war mein Leben total in Ordnung. Ich hatte viele Freunde und nette Eltern, die mir immer zur Seite standen und mit denen ich mich sehr gut verstanden hatte. Doch dieser eine Tag änderte mein ganzes Leben.
Wie so oft ist unsere Familie an den kleinen See nahe unseres Hauses gefahren. Was genau wir dort gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Und auch sonst habe ich alle Erinnerungen an diesen einen Tag verloren. An meinen letzten Tag. Das ist das, was mir am meisten zu schaffen macht.

Ich bin erst wieder zu Bewusstsein gekommen, als ich in der Klinik war. Zumindest dachte ich das damals. Ich konnte jedoch nichts spüren. Mich nicht bewegen. Ich kam zum Entschluss, dass ich tot sein musste. Aber ich atmete, nicht gleichmäßig, aber ich tat es.
Und schon bald darauf hörte ich es: Stimmen. Sie klangen nah, und doch so weit entfernt. Es waren viele Stimmen. Stimmen, die meinen Namen sagten. Stimmen, die durcheinander redeten. Und Stimmen, die mich immer und immer wieder riefen, als wollten sie, dass ich aus diesem schrecklichen Albtraum erwachte. Was ich am liebsten getan hätte.
Aber ich konnte nichts tun. Nicht meinen Arm ein wenig bewegen, nicht meine Mundwinkel zu einem Lächeln heben. Und vor allem konnte ich nicht meine Augen öffnen. Ich konnte kein Zeichen dafür geben, dass ich noch am Leben war.

Irgendwann konnte ich die Stimmen dann Personen zuordnen. Meiner Mutter. Meinem Vater. Meiner Schwester. Und auch allen meinen Freunden. Sie waren gekommen, um mir beizustehen. Die Ärzte sagten, ich würde im Koma liegen und nichts wahrnehmen. Dass ich keine schlimmen Verletzungen hätte. Dass ich bald aufwachen würde. Alle schöpften Hoffnung.
Doch dann starben meine Eltern. Sie waren auf dem Weg zur Klinik mit dem Auto auf dem Glatteis ins Schlittern geraten, hat mir meine Schwester erzählt. Ich wollte weinen, doch ich konnte nicht. Konnte meiner Schwester nicht beruhigend über die Schulter streichen. Sie nicht trösten.

Kurz nach diesem Unfall verschwand die Hoffnung. Und alle meine Freunde mit ihr. Sie gingen einfach, einer nach dem anderen. Ohne mir Auf Wiedersehen zu sagen. Da es dieses Wiedersehen nicht geben würde. Die einzige Person, die mir geblieben war, war meine Schwester. Sie kam jeden Tag, erzählte mir alles. Bis ins kleinste Detail. Nur meinen Unfall erwähnte sie mit keinem Wort. Warum sie mir alles erzählte, wusste ich nicht. Aber ich war ihr dankbar dafür.

Seitdem sind 10 Jahre verstrichen. 10 Jahre, die ich darauf gewartet habe, dass meine Schwester ihr Versprechen einlöst. Das Versprechen, dass wir einander helfen. Das Versprechen, dass sie mich umbringen wird. Und heute hat sie mir ins Ohr geflüstert, dass ich morgen sterben werde. Darauf habe ich gewartet.
Aber jetzt, wenn ich es mir genauer überlege, habe ich Angst. Angst davor, was aus mir wird. Davor, was danach passiert. Und davor, dass der Tod schlimmer als mein jetziger Zustand sein könnte.

Außerdem habe ich das Gefühl, dass ein bisschen Leben in mich zurückgekehrt ist. Jetzt, wo ich mich an alles wieder erinnert habe. Als bräuchte ich nur noch ein letztes Puzzleteil, um das riesige Puzzle zu vervollständigen. Als bräuchte ich nur noch eine letzte Erinnerung.
Und da fällt es mir ein. Ich brauche die Erinnerung an den Tag des Unfalls. Die Erinnerung, die mir meine Schwester verschwiegen hatte. Ich brauche sie. Und ich brauche Geduld.
Aber ich habe ja noch bis morgen Zeit.

©2017 Pegasus AG/ Katharina Stoll (8F)

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