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Geschichte „Wer bin ich?“

1. Platz des 10. LuO-Literaturwettbewerbs 2016 der Jgst. 7-9
Geschichte:

"Wer bin ich?"


Was wäre wenn..? Diese Frage verfolgt mich seit Tagen. Ich kann nicht schlafen, nicht essen, und sogar meine Haare fallen mir aus. Egal wohin ich gehe, sie verfolgt mich wie mein Schatten. Aber es ist nicht meiner, sondern Pierre. Er sollte jetzt hier stehen, und auf die Ansage des Moderators warten. Aber da bin nur ich, und ich fühle mich, als würde ich ihm seinen Traum wegnehmen. Ich weiß ja nicht einmal,ob ich das Leben, das mich außerhalb des Vorhangs, der mir die Sicht zur Tribüne verbaut, erwartet, überhaupt leben will. Pierre wusste mit jeder Faser seines Seins, dass er es wollte, mehr, es war sein Lebensziel. Ich wollte es auch, bis zu dem Moment, der alles veränderte. Um das zu erklären, muss ich zehn Jahre zurück greifen…
Es war der heißeste Tag des Jahre 1901. Die Hitze lag bedrückend auf jedem von uns. Niemand bewegte sich an diesen heißen Tagen mehr als nötig. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb mich die Leute so anstarrten: Ich sprintete durch die Straßen und quetschte mich durch die Leute, die nicht rechtzeitig wegsprangen. Meine Lunge überschlug sich fast, meine Füße waren platt getreten und meine Kehle sehnte sich nach Wasser, trotzdem rannte ich weiter, bis ich das unscheinbar wirkende gelb gestrichene Haus erreichte.
Als ich die Wohnung betrat, begrüßte mich der wohlige Duft von frisch gebackenem Croissant, „Pierre, Pierre der Herr Marion hat mir einen Tipp gegeben, ich werde nächstes Jahr den Prix Gegner gewinnen!Ist das nicht unglaublich?“ „ Das ist wunderbar, aber sag, hast du nicht schon letztes Jahr den Preis gewonnen?“, fragte er und hielt mir ein Croissant hin. „Ja, das stimmt, aber du weißt doch, damals ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen“,nuschelte ich gegen das in meinen Mund gestopften Croissant an, „Und das ist noch nicht alles!“ „ Nicht?“,fragte Pierre erstaunt.„ Auf Grund meiner vielen Kontakte, kann ich sagen, dass sie, auf Grund ihres Siegs beim Prix Gegner auf die finanzielle Unterstützung der Akademie des sciences bauen können“, imitierte ich für meinen Geschmack fast zu gut die näselnde Stimme des Herren Marion.
Wir saßen noch lange da,aßen Croissants, und fühlten uns seit langem endlich wieder lebendig.Seit Monaten hatten wir vor Arbeit kaum noch Zeit für den Anderen gehabt. Aber an diesem Tag war einfach alles perfekt.
Rückblickend würde ich sagen, dass das der Tag war, an dem ich endlich dazugehörte. Der Preis war der kleine Anstoß, den ich gebraucht hatte, um es zu schaffen. Ab diesen Tag fühlte ich mich wie eine echte Wissenschaftlerin. Ja, ich experimentierte schon vorher, und hatte sogar 1899 mir Pierre den Nobelpreis in Physik gewonnen, aber jetzt wurde ich anerkannt, und nicht als die Gattin von Pierre, nein, sondern als waschechte Wissenschaftlerin! Ich bekam noch oft kleine Preise und Unterstützungen, aber sie verloren irgendwann die Bedeutung für mich. Ich steuerte ein neues Ziel an:
meinen Nobelpreis.
Doch dann kam alles anders für mich: Am 19. April 1906 passierte es.Ich arbeitete im Laboratorium, Pierre hatte ich heute noch nicht zu Gesicht bekommen, wir waren beide zu beschäftigt mit unseren Arbeiten gewesen. Mir war eine brillante Idee zur Isolierung des Radiums gekommen. Seit Stunden forschte ich schon an der perfekten Mischung der Lauge, als mich das Telefon aus meinen Gedanken riss. Als ich abhob, begrüßte mich die raue Stimme von Albert, einem pummeligen Polizisten mit einem Fabel für schwarzen Humor. Doch heute war er todernst. Als er mich bat, mich zu setzen,bekam ich langsam Angst. Was war so Schwerwiegendes vorgefallen? Und dann erzählte mir Albert alles.
Er erzählte mir, wie er vorhin an einen Unfallort gerufen wurde. Ein 47-Jähriger war unter eine Droschke geraten, woraufhin er einen Schädelbruch erlitten hatte und noch am Unfallort gestorben war. Das war an sich nichts besonderes, viele Menschen hier in Paris sterben täglich an Verkehrsunfällen. Also warum rief Albert ausgerechnet mich an? War die Leiche stark zerschunden und er brauchte jemanden zum reden? Wohl kaum.
Und auf einmal wusste ich wer das Opfer gewesen war, er musste es nicht mehr sagen. Die Antwort schnitt mir die Kehle zu. Ich rang nach Luft in einem aussichtslosem Kampf gegen die Panik, die in mir hoch stieg. Nur am Rand bemerkte ich noch die verzweifelten Versuche Alberts, mich vor meinen düsteren Gedanken zu bewahren. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam sah ich meine älteste Tochter Irene, die mich drückte, sich um mich sorgte, und mir erzählte, dass alles gut werden würde, nach ein paar Tagen kamen Pierres Vater Eugène und sein Bruder Jacques angereist, um sich um mich und Eva zu kümmern. Ich bekam nicht viel davon mit, mir schwirrte nur ein Gedanke im Kopf herum. Wieder und wieder versuchte ich ihn zu verdrängen, und damit auch die bösen Geister mit ihm. Aber der Gedanke kam immer wieder zurück, sodass ich es nicht mehr leugnen konnte:
Pierre war tot.
Monatelang zog ich mich zurück in mein Schneckenhaus, gefangen von den Geistern in meinem Kopf, wie gelähmt vor Trauer. Ich kapselte mich immer mehr vom Leben ab,Eva, Eugène und Jacques hatten es schon längst aufgegeben mich aufzuheitern, hatten mich schon längst aufgegeben. Ehrlich gesagt hatte ich das auch.
Meine Erinnerungen an ihn verschwommen langsam, was mir nur noch deutlicher vor Augen hielt, das ich ihn vollends verloren hatte. Ich hatte mit ihm meinen Lehrer, meinen Kollegen und auch meinen Mann verloren.
Doch dann wurde ich von einem Schüler von ihm, Paul Langevin, besucht. Und ich war zum ersten Mal wieder glücklich. Er erinnerte mich so sehr an ihn. Es war so befreiend, mit ihm zu reden, scherzen und trauern. Es war hart, den Schmerz endlich zuzulassen,aber ich fühlte mich bei ihm sicher. Danach war ich merkwürdig befreit und ertappte mich sogar beim Lächeln!
Am 5. November hielt ich meine erste Vorlesung,denn mir wurde Pierre Kurs übertragen, es war schwieriger als gedacht, all den Leuten gleichzeitig gegenüberzutreten, die Pierre als Lehrer gehabt hatten, doch Paul half mir durch diese schwere Zeit.
Auch als ich 1911 wegen 2 Stimmen nicht fest an die Académie des Sciences angenommen wurde, konnte ich auf seine Unterstützung bauen. Und dann passierte es:
Ich verliebte mich in ihn, obwohl er 5 Jahre jünger und verheiratet war.Rückblickend weiß ich, dass ich mich nicht in ihn, sondern in die gemeinsamen Erinnerungen an Pierre verliebt hatte.
Ostern 1911 wurden unsere Briefe entwendet, und kurze Zeit später wurde ich von der Frau von Paul verklagt. Erst dann begriff ich, was ich getan hatte. Ich schämte mich vor mir selbst, konnte mich nicht mehr im Spiegel ansehen.
Um Paul und mich verteidigen zu können, rief auch ich einen Anwalt zu Hilfe,den besten,den ich finden konnte, Alexandre Millerand. Somit hatte ich uns rechtlich abgesichert, doch viele Zeitungen schrieben zu recht sehr kritisch über uns. Sie gaben ihm den kreativen Namen „die Langevin-Affäre“.
Ich verlor jeglichen Halt: Ich hatte Pierre, die Liebe meines Lebens verloren, mich dann in seinen verheirateten Schüler Paul verliebt, den ich auch verloren hatte,wofür ich öffentlich im Dauerzustand verhöhnt wurde.
Das waren 10 bewegende Jahre…
…„Und der diesjährige Nobelpreisträger ist…“, der Moderator macht eine bedeutende Pause, „Marie Skłodowska .“ Die Menge ist außer rand und band.Ich eile am Vorhang vorbei, die Treppe hinauf zum Publikum, und nehme die Urkunde entgegen. Ein unscheinbarer Papierfetzen, auf dem mein Mädchenname Marie Skłodowska in großen Buchstaben gedruckt ist. Aber das ist falsch, ich bin nicht Marie Skłodowska, denn Pierre wird immer ein Teil von mir sein, weder Raum noch Zeit können uns trennen. Also nennt mich Marie Curie!
©2017 Pegasus AG/ Carla T.

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