Alles Anders
Das Alltagsleben ist ein langes Einschlaflied.
Die gleichen Tage sind es, die wir wie Schafe zähln':
Ein Tag gleicht dem nächsten, das macht uns immer träger,
bis wir, im Schlummer schon, nur fern noch hörn' die Strophen.
Doch unerwartet werden wir von schiefen Noten aufgeweckt,
Das Lied, das wir einst kannten, erklingt in neuem Ton.
So sind wir aus dem Schlaf geschreckt, und stellen fest: alles anders.
Was Teil des ewigen Liedes war, ist nun anders, alles anders.
Die Sonne scheint, die Welt doch grau.
Verträumt seh' ich aus verleidetem Fenster,
versuch verzweifelt, mich zu erinnern,
was vor Sommern noch gewesen,
wie mir das Eis auf der Zunge zerschmolz,
wie meine Freunde sich noch mit mir trafen,
was die Worte waren der Strophen, bevor der neue Teil brach an.
Der Lehrer spricht, tat er es auch einst gegen die redenden Schüler an,
versucht er nun, man glaubte es kaum, die Stille zu übertönen.
Elend gerahmt geht der Unterricht; wie eine Fremdsprache üben wir: "Inzidenzwert! Mutationsgebiet!"
und lernen die Worte von dieser Strophe.
Übereinander liegen die Seiten, im verhassten Viereck wie auf dem Schreibtisch,
sodass ich denke, flehentlich: Wann kann ich wieder zur Schule gehn? Einst war dieser Wunsch absurd.
Doch endlich, dann, zum Abend hin,
das Chaos wird nun abgelöst
von täglichen Versen der Tagesschau,
wo sie immer das Selbe sagen.
Doch ihr Gedudel macht uns müde,
unter dunkler Musik versinken
wir in düsteren Traum, in schleichenden Schlaf.
Sagte ich etwa: alles anders?
Die Tage sind nun elendig gleich,
gleicher noch als vor dem Wandel,
und in Albtraum verfallend wünschen wir,
dass das traurige Lied wieder fröhlich wird.
Da siechen wir nun erschöpft vor uns hin,
denn was uns Mensch macht, ward uns genommen.
Und trotzdem sind wir noch immer Mensch,
das hat sich nicht geändert.
Es ist nicht alles anders.