Unerwartet hallte die Türklingel durch die von Morgenlicht getränkten, mit müden Jalousien verhangenen Zimmer meines kleinen Apartments. Unerwartet, ja so ließ sich auch das bezeichnen, was vor der abgenutzten Wohnungstür mit Engelsgeduld auf mich wartete. Es war klein und kantig, der Körper faltig und vernarbt, an einer Ecke durchnässt, trotz sonnigem Frühlingswetter, in bunte Rüstung gehüllt. Trotz seiner Größe thronte es Stolz über meiner bräunlichen Fußmatte, als gäbe es keinen Ort, den es lieber besetze. In halbe Schlaftrunkenheit verhüllt, nahm ich den Reisenden in mein Zuhause auf, erfüllt von den Fragen „Woher?“ und „Warum?“. Es war nicht schwer, nein sogar überraschend leicht und ließ sich höflich zu Tisch bitten. Zügig zog ich die schweren Rollläden hinauf, die die Wohnung noch vor wenigen Minuten in ein wohliges Zwielicht tauchten, jenes Zwielicht, dass man als Kind gefürchtet, mit dem Alter jedoch verschlafen lieben gelernt hatte. Mein Gast verblieb während diesen wenigen Minuten auf dem Wohnzimmertisch wie jenes Dunkelheit-fürchtende Kind, dass dem Erwachsenen voll Neugier bei seinen Tätigkeiten hinterherblickte, voll Freude, trotz vollständiger Unwissenheit. Doch die Neugier sollte bleiben, denn ich entschloss mich zu frühstücken, bevor ich mich weiter mit dem bunten Besucher befasste. Eine warme Brise zog durch das Küchenfenster, es würde ein netter Tag werden, dachte ich, während ich zwei Toastscheiben abenteuerlich in die Tiefe des Toasters stürzen ließ und die Marmelade heroisch auffing, welche mir, aus dem Kühlschrank fliehend, in die Arme fiel. Erschreckt durch eine rauschende Kaskade aus warmen Kakao stolperte ich ungewiss in Richtung Balkontür, fand Halt an dem weißen Plastikgriff und ließ mich erschöpft auf den hinter jener stehenden Klappstuhl sinken, während ich die braunen und beigen Häuserdächer überblickte, Wächter einer erwachenden Morgensonne.
Was musste der Besucher wohl von mir denken? Vielleicht amüsierte er sich heimlich und kicherte verlegen in seine bunten Gewänder oder trippelte ungeduldig mit seinem nassen Fuß auf dem glatten Holz des Wohnzimmertisches in der Hoffnung mit einer baldigen Reaktion von seinem stillen Gastgeber zu rechnen. Viele Möglichkeiten, Stimmlagen und Dialoge wanderten karavanengleich durch die Wüste meiner Gedanken, manche erfüllt von Freude, andere von Unbehagen, alle jedoch waren sie auf der Reise. Wohin? Wer weiß. In die Weite, schätzte ich. Dorthin, wo mein verhüllter Gast gewesen war.
Der Tag schritt langsam der Mittagszeit entgegen, als ich mich endlich an den nun hell erleuchteten Tisch setzte, dem Reisenden gegenüber, der respektvoll in der Tischmitte verweilte, auf ein Zeichen der Konversation wartend, und von reiner Vorbehaltslosigkeit erfüllt, doch er würde weiter warten, denn kein Wort verließ mich in diesem Moment. So saßen wir da in stiller Einheit mit dem Blick auf den jeweils anderen gerichtet, wenn man die zwei kleinen Dellen an seiner linken Seite als Augen ansehen konnte. Ich räusperte mich ein, zwei, dreimal, beugte mich nach vorn, wollte den Mund gerade öffnen, doch da hörte ich ein helles Zwitschern. Ein Rotkehlchen hatte sich mit ausreichender Distanz zu uns auf den kleinen Pflaumenbaum, der auf dem Balkon seinen Platz gefunden hatte, gesetzt und trillerte versöhnliche Töne in Richtung unserer stillen Zusammenkunft.
Vielleicht kannten sich die beiden Gäste, vielleicht auch nicht. Die Anonymität fand ich durchaus charmant und drum schloss ich für 2 Augenblicke die Augen und ließ die fremden Melodien durch meinen Geist wandern. Währenddessen verstummte der bekannte Großstadttumult gänzlich, als hätte er seine eigene Unhöflichkeit der Situation zuliebe eingestellt, und zurückblieb das seichte Heulen der Winde durch die hohen Gassen, dass sich, wie ein reisender Sänger, dem Lautenspiel des roten Musikanten anschmiegte. Es entfloh mir ein zufriedenes Lächeln. Nur ein Kind der Ironie und des Zufalls, die uns hier zusammenbrachten, wie eine Familie, die zusammen am Esstisch sitzt. Jedoch waren wir keine Familie. Wir waren Fremde, Reisende unseres eigenen Lebens, Wesen voll stummer und lauter Kuriosität.
Wenige Momente später trennten wir uns. Die Stadt tönte wieder, das Rotkehlchen segelte schweigend der Mittagssonne entgegen. Nur ich und der Gast verblieben und blickten dem kleinen Vogel sehnsuchtsvoll nach. Jedenfalls ging ich davon aus, dass der Fremde, mit seiner rechten Seite von warmen Lichtstrahlen beschienen, dies ebenfalls tat. Fragen sprudelten wieder durch Kopf und Hals, als ich die unbekannte Schrift betrachtete, die dessen Haupt zierte. Sie war kunstvoll mit schwarzer Farbe gezogen, voll Rundungen und Strichen. Ein Kunstwerk, das nur darauf wartete, dass ihm jemand die Ehre des ersten Lesens erwies. Voll Verlegenheit war ich deshalb in meiner Unwissenheit gegenüber jener Schrift und der Kultur, die sie so freundschaftlich verfasst hatte. Zum ersten Mal erklang in mir der Ton der Überwindung, der Wille aufzustehen und jenes ferne Land zu ergründen. Ich würde es mir überlegen.
Schließlich brach der Nachmittag an und mit ihm die vielen kleinen Imperative, denen es sich zu widmen galt. Allerdings war der bunte Besucher nie weit entfernt. Ironisch, bedachte man die Weite, aus welcher er gekommen war. Und wie ein farbenfroher Klebezettel blieb mir sein Bild ständig im Gedächtnis, wie ein Abenteurer, der ein wertvolles Artefakt nicht loslassen will. So näherte sich die Sonne schüchtern dem Horizont an, als ich mich wieder an dem Tisch einfand, ermüdet durch den Tag und seine Fragen. Umso mehr beglückte mich die Stille, die sofort zwischen uns einkehrte, als hätte ich meinen Stuhl nie verlassen. Wieder vergingen die Sekunden, Minuten, Momente und zu keinem Wort geneigt saßen wir uns gegenüber. Wäre seine braune Papierhülle eine raue und steile Felswand, wie lange würde es wohl dauern sie zu erklimmen? Was würde oben auf mich warten? Vielleicht ein Fleckchen dunkelgrünes Gras, auf welchem man, erschöpft von dem Aufstieg und der Hitze des vergehenden Tages, der Sonne beim Untergehen über tiefen Schluchten, belebt durch fremde Flüsse, zuschauen könnte. So wie wir es nun durch die müden Fenster der Wohnung taten.
Mit dem Einbruch der Nacht und der langsamen Ankunft des kühlen Vollmonds begannen sich meine Gedanken zu beschleunigen. Erst in spielerischem Zickzack, dann in Kreisen, als wären sie selbst kleine bunte Monde, die den Reisenden umrundeten. Je mehr das blendende Mondlicht uns ummantelte, desto schneller wurden sie. „Kling!“, klang es plötzlich. „Kling!“ ertönte es erneut. Zwei der kleinen Himmelskörper mussten kollidiert sein und kreuzten tapfer ihre Degen am Nachthimmel meines Verstandes. „Kling Kling Kling!“ Das metallische Klirren wurde frequenter, hastiger, während meine Hand langsam damit begann, meinen Besucher wie eine Viper zu umschlängeln. Nun wusste ich ganz genau, welche Einfälle dort um Leben und Tod fechteten und mir blieb nichts anderes übrig, als die Zuschauerrolle einzunehmen. „Kling Kling Kling Kling!“ Aus dem gesitteten Tugendgesteche wurde ein hitziger Schlagabtausch. „Zissssschhhhhh“, machte es, denn mit einem kämpferischen Knistern schmolzen ihre Klingen, während meine Hand das bunte Gewand meines Gegenübers packte. „Wusch!“ immer heller wurde es, als meine zweite Hand sich erhob und scharf wie eine Klinge auf den Gast zuschoss. Ich konnte nicht denken, nicht einmal meinen Blick aus blassem Entsetzen abwenden, geschweige denn, dass ich wusste, dass ich dies überhaupt wollte. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Flamme um Flamme entstieg den Kämpfern, heller und heller wurde das Licht und tiefer und tiefer fiel ich in eine paradoxerweise eiskalte Trance. Ein letztes Mal gelang mir ein kurzer Blick aus dem Fenster, auf den Mond, die Schemen der Stadt und auf den Sternenhimmel, an dem ich, so glaubte ich jedenfalls, zwei winzige Sonnen glühen sah.
Als ich am nächsten Tag auf dem sehr unbehaglichen Wohnzimmerstuhl erwachte, hatte die Sonne schon ihre Farben in jede Ecke der Wohnung gestrichen. Sie war eine gründliche Malerin. Zu meiner Überraschung war mein Gast geblieben und verweilte mit ein, zwei Knicken in seinem Gewand auf dem Tisch. Ich fand in meiner Verlegenheit bezüglich der letzten Nacht doch eine Portion Frohsinn, richtete mich auf und ging schließlich ohne weitere Worte oder bloß ein Räuspern zu äußern. Wohin? In die Weite, schätzte ich und entschied mich dabei, das Paket nicht zu öffnen.
Unerwartet? Vielleicht.